Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
vermissen!
     
     
    Geträumt:
    Ich trage den Waffenrock von Stiller, dazu Helm und Gewehr. Ich höre Befehle: Batterie, Achtung steht! Schultert Gewehr! Vorwärts, Taktschritt, maaaarsch! Es ist heiß, der Boden sehr steinig und holprig. Und der Krieg ist ausgebrochen. Ich weiß es, in meinem Traum, ganz genau: das Datum ist der 3. 9. 1939. Empfinde es aber nicht als Vergangenheit, so wenig wie es in den Träumen als Vergangenheit empfunden wird, wenn man wieder in der Schulbank sitzt. Ich höre eine Stimme hinter mir, kreischend vor Nervosität. Einer ist nicht im Takt marschiert. Warum meldet dieser Mann sich nicht an? Wir stehen stramm. Das Gesicht eines Hauptmanns ist bleich vor Wut. Sie da! ruft er, zeigt auf mich, und ich höre in der Tat, wie ich melde: Mitrailleur Stiller. Es ist komisch, nicht einmal im Traum fühle ich mich als Mitrailleur Stiller, aber ich melde es gradaus in die Landschaft. Mitrailleur Stiller. Die Lippen des Hauptmanns zittern. Für Leute meiner Art, sagt er, gebe es im Krieg ganz besondere Posten; verstanden? Und wenn es losgehe, werde er mit mir (Mitrailleur Stiller) kein langes Federlesen machen; verstanden? Ich stehe stramm, Gewehr geschultert, und habe verstanden, daß dieser schweizerische Hauptmann, was sein gutes Recht ist, Stiller aus irgendeinem Grunde haßt und mich kraft des Gehorsams, den wir dem Vaterland eben geschworen haben, töten kann; ohne langes Federlesen – mit einem Befehl ...
     
    PS.
    Mein Verteidiger, als ich ihm beiläufig diesen Traum erwähne, ist sichtlich ungehalten. Wir sprechen über Militär. Es genügt ihm nicht, daß ich es um des Friedens willen (des Friedens zwischen meinem Verteidiger und mir) als notwendiges Übel anerkenne. Militär scheint auch in der Schweiz etwas Heiliges zu sein, und mein Verteidiger kann’s nicht dulden, daß man schlecht davon träumt. In Wirklichkeit, behauptet er, könne eine so ungehörige, geradezu verbrecherische Androhung seitens eines schweizerischen Offiziers niemals stattfinden. Dafür bürge ich! sagt er mit dem Stolz eines schweizerischen Offiziers, schätzungsweise eines Majors. Dafür bürge ich! sagt er mehrere Male.
     
     
    Antwort an Herrn Wilfried Stiller, den Bruder des Verschollenen – leider habe ich wieder einmal keine Kopie gemacht! – etwa in diesem Sinne: Ihr herzlicher Brief an Ihren verschollenen Bruder hat mich sehr betroffen, lieber Herr Stiller, er erinnerte mich an meine Mutter, so daß mir auch die Tränen kamen, und ich bitte um Entschuldigung, daß ich so lange nicht geschrieben habe. Mein Leben ist ein einziges Versäumnis! Es kränkt mich nicht, daß Sie mich nicht danach fragen, im Gegenteil, ich danke Ihnen dafür wie auch für die brüderliche Einladung; sie erinnert mich an meinen Bruder und daran, daß ich auch meinen Bruder versäumt habe. Wir hatten selten Streit, nie einen langen, nie einen wichtigen, denn wir hatten überhaupt nichts Wichtiges zusammen, so schien mir, und wir zogen auf gemeinsame Wanderungen, nur weil wir eben Brüder waren, Wanderungen mit friedlichen Erlebnissen im Zelt und mit gesprächlosen Stunden ums Feuer. Warum versäumte ich auch meinen Bruder? Freunde müssen einander verstehen, um Freunde zu sein; Brüder sind jedenfalls Brüder, und im Letzten, Sie haben recht, spielt es gar keine Rolle, wer ich bin, wäre ich bloß ein wirklicher Bruder! In diesem Sinn ...
     
     
    Das Allerneueste: der amerikanische Paß, womit ich um die halbe Welt gereist bin, ist eine Fälschung. Habe ich es meinem Verteidiger nicht schon vor Wochen gesagt? Ich kann mich nicht mitteilen, scheint es. Jedes Wort ist falsch und wahr, das ist das Wesen des Worts, und wer immer nur alles glauben will oder nichts –Mein Staatsanwalt (seit gestern aus Pontresina zurück) interessiert sich auch nicht für Mexiko, dagegen sehr für Neuyork, wobei er immer wieder in einen durchaus außeramtlichen und familiären Ton verfällt. Er sagt:
    »Meine Frau liebte Neuyork ja sehr.«
    »So«, sage ich.
    »Sie wohnte am Riverside Drive.«
    »Ach«, sage ich.
    »Sie wissen, wo das ist?«
    »Klar«, sage ich.
    »Bei der 108. Straße.«
    »Ach«, sage ich, »das ist ja bei der Columbia-University –«
    »Richtig!« sagt er.
    »Sehr schöne Gegend«, sage ich, »mit Blick auf den Hudson, ich weiß –«
    Usw.
    Anfänglich scheint es, als wolle er mit solchem Geplauder nur prüfen, ob ich Neuyork wirklich kenne, ob ich in Neuyork gelebt habe. Indessen ist diese Prüfung bald bestanden. Times

Weitere Kostenlose Bücher