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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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verhungern lassen! Vor uns, von unserer einzigen Laterne beschienen, glänzte die fast senkrechte Wand, jene heikle Stelle, die ich aber schon einmal allein bezwungen hatte; Jim war von der Kriecherei schon erledigt, und ich sagte ihm offen, was ich dachte: Jim, gib mir die Laterne, ich überlasse dir die letzten paar Bissen meines Hammelfleisches und versuche es, diese Wand allein zu besteigen. Denn es war Unsinn, am Seil zu hangen mit einem anderen Erschöpften, ich mit zerrissenen Händen, er mit einem gebrochenen Fuß, hier, wo es galt, wie ein Affe zu klettern. Ich sagte: Wenn es mir gelingt, Jim, dann bist du auch gerettet, dann kommen wir und holen dich, das ist doch klar. Er sagte: Und wenn du herunterfällst, Jim, mitsamt meiner Laterne? Ich schrie: Und du, Jim, wenn du rutschest, du mit deinem kaputten Fuß, und es reißt mich herunter wie schon einmal, Herrgott im Himmel, washast du davon, wenn wir beide da unten liegen! Er weigerte sich, die Laterne zu geben. Jim! sagte er, du kannst mich nicht in dieser Finsternis hocken lassen, das kannst du nicht tun! Wie immer, wenn einer den Mut hatte zu offener Selbstsucht, kam der andere mit seiner verdammten Moral. Ich weiß, ich machte es genau so. Jim! sagte ich, du kannst von mir nicht verlangen, daß ich mit dir verhungere, Jim, bloß weil du den Fuß gebrochen hast und nicht klettern kannst, das darfst du nicht verlangen, Jim, wenn du mein Freund bist. Noch einmal, zum letztenmal, wurden wir sentimental, erinnerten einander gegenseitig an unsere gemeinsame Zeit auf der Ranch, an Nettigkeiten aller Art, und in der Tat, an unserer Freundschaft war nicht zu zweifeln, ja, in diesen frauenlosen Cowboy-Monaten waren wir zu Zärtlichkeiten gekommen, wie sie unter Männern zwar nicht selten, jedoch für Jim und mich bisher nicht bekannt gewesen sind. Auch jetzt, dieweil er die Laterne hielt, mit festem Griff, und zwar so, daß ich sie nicht erlangen konnte, strich seine andere Hand, seine linke, das Haar aus meiner blutigen Schramme, und wir waren nahe daran, einander zu umarmen und von Herzen zu schluchzen; wäre es nicht um die Laterne gegangen. Ich schätzte ihn auf sechs oder sieben Stunden, unseren letzten Vorrat an Licht; der Aufstieg zur obersten Grotte, wo allenfalls der ferne Tagesschein helfen konnte, dauerte nach meiner Erfahrung ebenfalls sieben oder acht Stunden, Verirrungen nicht gerechnet. Die Entscheidung mußte fallen, und zwar jetzt, hier vor dieser Wand. Wozu das Gerede! Wir beide wollen leben, wenn möglich mit Anstand; aber wenn der andere mich mit meinem Anstand töten will? Ich sagte es noch einmal: Gib mir die Laterne, Jim, und ich gebe dir das letzte Fleisch. Jim lachte, wie ich ihn noch nie hatte lachen hören, so, daß sein Lachen mich erschreckte. Jim! fragte ich bänglich: Was hast du vor? Ohne ein Wort zu sagen, denn es war ja begreiflich genug, antwortete er nur noch durch Handeln. Er humpelte mit seinem gebrochenen Fuß, so rasch er konnte, zu der Wand, offenbar entschlossen, die Rollen zu vertauschen, die einzige Laterne zu behalten, selber zu versuchen, ob er die gefährliche Wand bezwingen könnte, und mir dafür das Hammelfleisch zu lassen. Jim! sagte ich und packte ihn gerade noch vor der Wand, vor diesem Katarakt aus grünem Tropfstein, wo er nach Griffen suchte, bereits auch das weiße Kreidekreuz gefunden hatte, unsere Markierung für den Ausstieg. Er sagte: Laß mich! Ich faselte vor Angst: Wenn du je mein Freund gewesen bist usw. In dem Augenblick, da wir im Schein der baumelnden Laterne, die Jim mit ausgestrecktemArm nach der anderen Seite hielt, damit ich sie ja nicht erlangen konnte, wieder das bekannte Skelett unseres Vorgängers erblickten, dieses Skelett eines vornüber gekrümmten Menschen, der an dieser Stelle ganz allein (oder waren auch die schon zu zweit gewesen?) und jedenfalls wie ein Tier verreckt war, in diesem Augenblick, da nichts mehr unser stummes und seit Stunden gestautes Grauen zurückhielt, gab es natürlich nur noch eins, nämlich das Unwillkürliche – Kampf mit Fäusten; das mörderische Ringen der beiden Freunde war da, fürchterlich, aber kurz, denn wer zuerst ins Rutschen kam, war erledigt, in Klüften der Finsternis versenkt, zerschmettert, verstummt.
    – – –
    »Nun«, sage ich zu Knobel, meinem Wärter und Zuhörer, indem ich endlich das Knöpfchen meiner Sonntagszigarre abbeiße, »wie gefällt Ihnen diese Geschichte?«
    Knobel starrt mich nur an.
    »Haben Sie Feuer?« frage ich.
    Nicht

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