Stiller
verschob und ihn nicht mehr zu speisen vermochte, ich weiß es nicht, jedenfalls versiegte er, der unterirdische Strom, und die Kavernen, die er in Hunderttausenden von Jahren ausgespült hatte, blieben leer. Einstürze vergrößerten die Kavernen, Einstürze, die so lange erfolgten, bis eine Schicht sich als tragfähige Decke erwies; das Geröll dieser Einstürze ist nicht mehr zu sehen, ihre Bruchstellen sind von Tropfstein überwuchert. Was weiterhin geschah: das bißchen Regenwasser, das da durch kleine Risse und Spalten von der grünen Oberfläche kam, tropfte in die leeren Höhlen und verdunstete, und damit begann der zweite Teil: die Verzierung der Kavernen, indem ja der Kalk, wenn das Wasser verdunstet, wieder ausscheidet. So entstehen Stalaktiten, die Tropfsteine, die von der Decke hangen, und so auch die Stalagmiten, die Tropfsteine, die aus dem Boden emporwachsen, Gebilde von einer Größe, daß die Geologen mit einer Entstehungszeit von fünfzig bis sechzig Jahrmillionen rechnen. Äonen nennen wir das, Zeitspannen, die derMensch wohl errechnen, aber mit seinem Zeitsinn nicht erfassen, nicht einmal in der Phantasie erleben kann. Wie es aussieht, was so entstanden ist in jenen Kavernen und weiterhin entsteht – Tropfen um Tropfen, aber es sind Ozeane von Wasser, die vertropft worden sind, und die Dauer eines Menschenlebens genügt gerade, um das steinerne Wachstum in Millimetern zu messen –, das ist nicht leicht zu schildern; Jim jedenfalls glaubte mir nicht, und dabei berichtete ich damals erst von den oberen Kavernen. Je tiefer man kommt, um so wunderbarer und unwahrscheinlicher, um so reicher sind die Gebilde, die von der Decke hangen wie Schleier aus Alabaster, weißlich, gelblich, im Schein unserer Laterne erglänzend, aber nicht nur Schleier, ganze Dome hangen da herunter, Gotik auf den Kopf gestellt, dann wieder Katarakte aus Elfenbein, stumm und erstarrt, als hätte die Zeit plötzlich aufgehört. Dann wieder sieht man Zähne eines Hais, Kronleuchter, Bärte, anderswo ist es ein Saal voll Fahnen, ein Museum zeitloser Historie, alles mit dem Faltenwurf wie bei den klassischen Griechen, dazwischen Schwänze von nordischen Drachen. Alles, was die Menschenseele je an Formen erträumte, hier ist es noch einmal in Versteinerung wiederholt und aufbewahrt, scheint es, für die Ewigkeit. Und je tiefer man hinuntersteigt, um so üppiger wächst es auch aus dem Boden der Kavernen, korallenhaft, man stapft wie durch Wälder mit verschneiten Tännchen, dann wieder ist es eine Pagode, ein Kobold oder eine verstorbene Fontäne aus Versailles, je nach dem Standort unserer Betrachtung, ein seltsames Arkadien der Toten, ein Hades, wie Orpheus ihn betreten hat; es fehlt nicht an versteinerten Damen, die, so scheint es, langsam von ihren fältelnden Schleiern verschluckt werden, von Schleiern aus Bernstein, durch keine menschliche Liebe je wieder zu erlösen, und in einem grünlichen Tümpel blüht es wie Seerosen, aber auch sie sind aus Stein, versteht sich, alles ist Stein. Immer wieder klafft es in Finsternisse, die eine Laterne nicht ausleuchtet; man wirft einen Stein hinab, fröstelt vor Schauer, wenn sein Kollern schon lange verstummt ist, und weiß, das Labyrinth nimmt kein Ende, auch wenn es gelänge, die Schlucht zu überqueren. Dennoch lockt es weiter. Geduckt unter einem Bündel von Speeren betritt man das Zimmer einer Königin, die nie gelebt hat; ihr Thron trieft von marmornen Quasten, darüber ein Gewölk von glimmernden Baldachinen. Alles kann man hier sehen, es fehlt nicht an Monumenten des Phallus, die ins Riesenhafte ragen, reihenweise, dazwischen geht man wie auf Blumenkohl, hält sich an zierlichen Hälsen, die zu einem Vogel oder zu einer Flasche gehörenmögen; Pflanzen und Tiere und menschlicher Traum, alles ist hier versammelt wie in einem unterirdischen Arsenal der Metaphern. Die letzte Kaverne, die ich erreicht habe, ist abermals anders; Filigran, ein Sarkophag mit Lilien aus Porzellan, und hier ist kein Fels mehr zu ahnen, geschweige denn zu sehen, nichts als Tropfstein, glatt und gläsern, nichts als Ornament, wuchernd über alles Arabische hinaus, ja, es wächst schon wieder zusammen, das Oben und das Unten, das Hangende und das Steigende umarmen einander, ein Dschungel aus Marmor, der sich selber auffrißt, lautlos und atemlos wie das All und doch nicht ohne Zeit. Auch dieses Werk der Äonen, man sieht es, muß sich erfüllen und erlöschen, Vergängnis auch hier.
Das nächste Mal ging
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