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Stiller

Stiller

Titel: Stiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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ich mit Jim.
    Zu zweit, so daß wir einander sichern konnten, und besser ausgerüstet als zuvor (zwei Laternen, Brennstoff für hundertzwanzig Stunden, Verpflegung fast für eine Woche, Hammelfleisch vor allem, aber auch Äpfel und Schnaps, ferner drei Lassos, eine Kreide für weiße Markierungen und eine Uhr, was wichtig ist), so wagten wir uns weit über das Skelett meines Vorgängers hinaus und erreichten den sogenannten ›Dome Room‹, wo sich der Unfall ereignete. Das war in der siebenundsechzigsten Stunde unseres gemeinsamen Abenteuers, also am dritten Tag, hätten wir Tage erlebt wie droben auf der Erde, nicht Sekunden und Äonen, und es war unweit jener Stelle, wo den Touristen heutzutage ein Lunch verabreicht wird, bevor sie mit dem Lift wieder ans Sonnenlicht fahren. Jim war gerutscht, landete wenige Meter weiter unten, stöhnte und beschuldigte mich sofort, ich hätte ihn nicht mit dem Lasso gesichert, was Unsinn ist; denn ich ging ja voran, meinerseits nicht minder gefährdet als mein Freund, und die Sicherung war durchaus seine Sache. Unsere Nerven waren halt gespannt, daher die Schimpferei; indessen versöhnten wir uns natürlich sofort. Jim hatte vermutlich den linken Fuß gebrochen. Was nun? Ich tröstete ihn, ich gab ihm Schnaps und überlegte im stillen, was nun wirklich zu tun sei. Tragen konnte ich meinen Freund nur, soweit man ohne Kletterei vorwärtskam, also nicht in die Höhe, nicht auf die Erde hinauf. Ich nahm ebenfalls Schnaps und sagte: Nur keine Aufregung, Jim, irgendwie werden wir dich schon hinaufziehen! Wir untersuchten seinen Fuß, behandelten ihn auch mit Schnaps; vielleicht war er nicht gebrochen, nur verstaucht. Seinen Schmerzen und meiner Vernunft zum Trotz, wortlos, beharrte Jim darauf, den Stiefel sofort wieder anzuziehen. Fürchtete er im Ernst, ich würde ihnplötzlich im Stich lassen? Beide hatten wir bisher kaum geschlafen, die Rast und der Schnaps machten es spürbar. Mein Plan war die bare Vernunft: die Laternen löschen, um Brennstoff zu sparen, und einige Stunden lang zu schlafen, dann mit neuer Kraft auf den Rückweg, der schmerzhaft sein würde für Jim, gewiß, erschöpfend für mich. Futter hatten wir noch für drei Tage, schwieriger wurde es mit unserem Licht. Unser zweiter Streit begann damit, daß Jim sich weigerte, seine Laterne zu löschen. Jede Stunde an Brennstoff konnte kostbar werden! Ich sagte: Wenn du jetzt nicht vernünftig bist, sind wir verloren. Jim sagte: Mit Schnaps willst du mich füllen und dann abhauen, wenn ich schlafe, das ist deine ganze Vernunft. Ich lachte, denn dieses Mißtrauen verdiente ich nicht, noch nicht. Nach einigen Stunden, da keiner von uns schlief, sondern beide nur fröstelten, sagte ich: Also los, gehen wir hinauf! Seinen Arm um meinen Hals geschlungen, verbissen und entschlossen, seine Schmerzen durchzuhalten, humpelte er, ohne indessen seine Lasten abzugeben, seine Laterne, seinen Futtersack, sein Lasso. Wir kamen besser voran als erwartet; wo wir nicht nebeneinander gehen konnten, folgte Jim auf allen Vieren; in Anbetracht seiner steten Angst, daß ich abhauen könnte, ließ ich ihn später immer vorankriechen. Die Markierung mit der Kreide bewährte sich ziemlich; einige Verirrungen mit verzwackten Rückzügen, die zuweilen mit neuen Verirrungen verbunden waren, so daß man aufatmete, wenn man nach einigen Stunden wenigstens wieder die verlassene Markierung erreicht hatte, blieben uns nicht erspart, ebensowenig die stumme Einsicht, daß Humpeln und Kriechen noch lange nicht Klettern bedeutete. Wir waren aber (nach heutigen Kenntnissen) siebenhundert Fuß unter der Erde! Ich gebe zu, ich hatte Angst vor dem Augenblick, da sich zeigen würde, daß ich außerstande war, meinen Freund über die teilweise fast senkrechten Felsen emporzuziehen; was dann? Wir hatten noch Licht für etwa fünfzig Stunden, sofern Jim mich nicht belog; er hatte die Uhr. Ich sagte: Zeig her! Jim grinste und zeigte das Zifferblatt nur von ferne: Bitte. Ich fragte mich, ob er nicht die Uhr verstellt hatte. Was konnte es ihm nützen! Mit einer Lüge macht man kein Licht. Er erbarmte mich, versteht sich, mit seinem schmerzenden Fuß; doch darum ging es immer weniger. Es ging um die Zeit. Wußte ich denn, wie viele Stunden ich brauchen würde, um allein wieder auf die Erde zu gelangen? Seit dem Unfall hatten wir nichts mehr verzehrt. ›Rock of Ages‹ nennen sie heutzutage jene Stelle, wo sich der Rest unserer Freundschaft abspielte. Jim weinte

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