Stiller
sich dem andern hingibt; das war nicht die Strapaze, sondern die Entspannung, die er sich gönnte. Die Strapaze war die Einsicht, das unfreiwillige Eingeständnis, daß er sich über das Niveau seiner Gefühle bisher doch sehr getäuscht hatte, über seine Reife. Nicht einmal sein Wille (so sagt er) war dieser Probe gewachsen; ohne ein Wort gesagt zu haben, war er verreist, konnte es aber in der Folge nicht lassen, seiner Sekretärin dann doch einen verschlossenen Brief zu schicken, der nur seiner Gattin auf Anfrage auszuhändigen war, einen Brief mit seiner Adresse für den Notfall. Vier Tage lang schien dieser Notfall nicht einzutreten. Er wurde nicht vermißt, siehe da! Tag für Tag, stets eine halbe Stunde nach Ankunft der nördlichen Züge, erkundigte er sich nach ›posta restanta‹, vergeblich. Zwischenhinein gab es Stunden heiterer Würde, gewiß, er brachte es zur Lektüre der Churchill-Memoiren in englischer Sprache, er saß als rasierter Müßiggänger an der morgendlichen Sonne, trank seinen roten Campari und las in den Hintergründen des Zweiten Weltkrieges, ohne zugegebenermaßen auf die Uhr zu blicken, im Grunde aber wartete er nur darauf, vermißt und mit allen Mitteln gesucht zu werden, ja, es hätte ihn nicht überrascht,die reuevoll suchende Sibylle irgendwo auf den Straßen von Genua zu sehen. Ihr ›schnödes‹ Schweigen, das sich ihm als marmorne Halle eines italienischen Hauptpostamtes darstellte, machte ihn jedesmal sehr bleich; wie oft noch zwang dieses Weib ihn zur selben Entdeckung, wie unfähig er war, seine eigenen Theorien zu leben! Am vierten Tag, endlich, war da ein Telegramm. Mit dem typischen Kollaps des Geretteten, den erst die Entspannung gänzlich umwirft, saß er eine Weile, bevor er es aufriß, müde-gelassen vor Erleichterung, was immer seine Gattin auch schreiben mochte. Es war aber gar nicht von seiner Gattin; nur die Sekretärin mußte wissen, wann er wiederkäme. Das genügte. Er lachte. Das wirkte (so sagt er) wie eine sehr kalte Dusche. Er fetzelte das Telegramm in den Papierkorb, ohne weitere Überlegungen entschlossen, den nächsten Zug zu nehmen. Nur: um das Hotel zu zahlen, fehlten ihm jetzt die zwanzigtausend Lire. Was tun? Er mußte sehen, wie und wo er sein Pfand, den amerikanischen Herrenkleiderstoff, verkaufen konnte, und zwar so rasch wie möglich. Um Mittag fuhr der beste Zug. Bloß nicht wieder ein Nachtzug! Es war ungefähr zehn Uhr vormittags, als Rolf etwas verlegen, denn das Paket unter seinem Arm war sehr lotterig, durch die Halle seines Hotels hinausging und natürlich nicht ohne Hemmungen, jedoch entschlossen, sich als Verkäufer zu versuchen, einen Kleiderladen ausfindig zu machen, einen nicht allzu gediegenen, versteht sich. Wieder war es sehr heiß; er schwitzte, bewahrte aber seine Krawatte um des besseren Eindrucks willen. Die halb schnoddrige, halb erbarmungsvolle Art, wie er im ersten Geschäft abgewiesen wurde, ließ es ja wohl ratsam erscheinen, ein noch bescheideneres Quartier aufzusuchen. Es schlug bereits elf Uhr, als er beim vierten Besuch wenigstens nicht einfach vor die Türe gestellt wurde, sondern sein Paket zum erstenmal aufschnüren durfte; er hatte Glück, hier waren keine Kunden in dem Laden. Ein Zipfelchen seines amerikanischen Herrenkleiderstoffes genügte; der Inhaber, ein bleicher Geck mit Schnäuzchen, lachte ihm ins Gesicht. Rolf wollte ja keinerlei Profit, nur einen Teil jener verlorenen Summe, um sein Hotel bezahlen zu können; er war billig, vielleicht zu billig, nach der Behandlung zu schließen, die ihm zuteil wurde. Der Geck mit Schnäuzchen las in seiner Zeitung weiter, als wäre Rolf nicht mehr vorhanden. Hier, zum erstenmal, redete er nicht von einzigartiger Occasion, sondern von seiner tatsächlichen Lage. Ohne das allermindeste Interesse auch nur menschlicher Art, ohne auch nur eine Miene kostenlosen Verständnisses, in seiner raschelnden Zeitung umhergähnend, ließ der Kerlihn einfach stehen, bis er von selber wieder ging, sein Paket unter dem Arm. Etwas hoffnungslos war ihm zumute, ohne daß er an seine Gattin mit ihrem überlegen-glücklichen Gesicht zu denken brauchte. In der Tat, nach dem Zipfelchen zu schließen, war es ein ziemlich beschissener Stoff, spröde, alles andere als Wolle, keine Rede von fünfzig-zu-fünfzig, dazu ein Muster, wie er selbst (mein Staatsanwalt) es nie und nimmer tragen möchte, so etwas Ordinär-Kleinliches; dazu fleischfarben! Auf den Stufen zu einer alten Kirche, umgurrt von
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