Stilles Echo
tief in die Taschen. Mittlerweile kamen mehr Leute am Ende der Gasse vorbei, Männer, die zur Arbeit in Fabriken und Lagerhäusern gingen, Frauen, die in Spinnereien für einen Hungerlohn arbeiteten. Die unbekannten Heerscharen, die in den Straßen selbst arbeiteten, kamen ebenfalls langsam hervor, Hausierer, Straßenhändler, Lumpensammler und solche, die Informationen aller Art feilboten, daneben gemeine Diebe und Kuppler.
»Weshalb kommt ein Mann hierher?« Evan sprach mit sich selbst. »Wegen etwas, das er in seinem eigenen Stadtteil nicht kaufen kann.«
»Aus reiner Neugier«, sagte Shotts lakonisch. »Billige Frauen, Geldverleiher, Kartenhaie. Oder um Diebesgut zu verkaufen oder etwas fälschen zu lassen.«
»Genau«, pflichtete Evan ihm bei. »Wir sollten herausfinden, welches dieser Motive die beiden hierhergeführt hat – und zu wem.«
Shotts zuckte die Achseln und lachte hohl. Was ihre Erfolgschancen betraf, konnte er sich jeden Kommentar sparen.
»Diese Frau, Daisy Mott«, sagte Evan und setzte sich Richtung Straße in Bewegung. Ihm war so kalt, daß er seine Füße kaum noch spürte. Der Geruch der Gasse ließ Übelkeit in ihm aufsteigen, und er zog die Schultern noch ein Stück höher. Er hatte binnen weniger Stunden zuviel Gewalt und Schmerz gesehen.
»Der Arzt hatte recht«, bemerkte Shotts, als er Evan eingeholt hatte. »Eine heiße Tasse Tee mit einem Tröpfchen Gin würde Ihnen nicht schaden und mir auch nicht.«
»Einverstanden.« Evan erhob keine Einwände. »Und dazu ein Stück Pastete oder eine Scheibe Brot. Und dann suchen wir die Frau.«
Aber als sie sie fanden, wollte sie ihnen nichts sagen. Sie war klein und blond und sehr dünn. Sie hätte ebensogut achtzehn wie fünfunddreißig sein können, das ließ sich unmöglich sagen. Sie war müde und verängstigt und sprach überhaupt nur deswegen mit ihnen, weil sie nicht wußte, wie sie es hätte verhindern können.
In der Streichholzfabrik herrschte bereits geschäftiges Treiben, und das Dröhnen der Maschinen untermalte jedes andere Geräusch. Hinzu kam der Geruch von Sägespänen, Öl und Phosphor, der schwer in der Luft lag. Die Arbeiter waren ausnahmslos bleich. Evan sah mehrere Frauen mit dicken, eiternden Geschwüren oder mit Gesichtern, in denen die als »Phosphorkiefer« bekannte Knochennekrose auch die Haut verzehrt hatte. Sie sahen ihn mit nur geringer Neugier an.
»Was haben Sie bemerkt?« fragte Evan sanft. »Erzählen Sie mir genau, was passiert ist.«
Sie holte tief Atem, sagte jedoch nichts.
»Es will niemand wissen, woher Sie kamen«, warf Shotts hilfreich ein. »Oder wohin Sie wollten.«
Evan zwang sich, die Frau anzulächeln.
»Ich bin in die Gasse gekommen«, sagte sie zaghaft. »Es war noch fast dunkel. Ich war schon ganz nah dran, als ich ihn gesehen habe. Erst dachte ich, er wäre bloß betrunken und eingeschlafen. Passiert oft hier herum.«
»Natürlich!« Evan nickte. Er war sich der vielen anderen Augenpaare bewußt, die ihn anstarrten, und auch das grimmige Gesicht des Vorarbeiters, der zehn Meter von ihnen entfernt stand, war ihm nicht entgangen. »Was hat Sie darauf gebracht, daß der Mann tot war?«
»Blut!« sagte sie voller Verachtung, aber ihre Stimme klang heiser. »All dieses Blut. Ich hatte eine Laterne, und ich habe seine Augen gesehen, die mich angestarrt haben. Und da habe ich dann geschrien. Konnte einfach nicht dagegen an.«
»Natürlich. Da hätte jeder geschrien. Was ist als nächstes passiert?«
»Weiß nicht. Mein Herz hämmerte wie die Hufe der Gäule auf dem Pflaster, und mir war schlecht. Ich glaube, ich habe bloß dagestanden und geschrien.«
»Wer hat Sie gehört?«
»Was?«
»Wer hat Sie gehört?« wiederholte er laut. »Es muß doch jemand gekommen sein.«
Sie zögerte und wirkte nun wieder sehr ängstlich. Sie wagte es nicht, jemand anders in die Sache hineinzuziehen, das konnte er in ihren Augen lesen.
»Wer ist gekommen?« fragte er schärfer. »Wollen Sie, daß ich an jede Tür klopfe, die Leute heraushole und befrage? Wäre es Ihnen lieber, man würde Sie festnehmen, weil Sie die Polizei belogen haben? Sie würden angezeigt. Machten sich einen schlechten Namen.« Er deutete an, daß es die Leute auf den Gedanken bringen würde, sie sei ein Polizeispitzel, und das begriff sie auch.
»Jimmy Eiders«, sagt sie und sah ihn voller Abscheu an.
»Und seine Frau. Sie sind beide gekommen. Er wohnt ungefähr in der Mitte der Gasse, hinter der Holztür mit dem Schloß dran.
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