Stilles Echo
Schauder des Mitleids und des Grauens auf den jüngeren Mann herab.
»Keine Ahnung, Sir, aber ich hoffe, wir kriegen den Bastard, und dann wird man ihn hängen, da bin ich mir sicher. Jedenfalls, wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe. Nicht daß es leicht sein wird, ihn zu kriegen. Bisher scheint’s gar keine Spuren zu geben, und von den Leuten hier herum können wir nicht viel Hilfe erwarten.«
Evan kniete neben dem jüngeren Mann nieder und tastete dessen Taschen ab, um festzustellen, ob man ihm irgendwas gelassen hatte, anhand dessen sich zumindest seine Identität feststellen ließ. Er strich mit den Fingern über den Hals des Mannes. Mit stockendem Atem und einem Gefühl, das an Entsetzen grenzte, hielt er inne. Die Haut war warm! War es vorstellbar, daß der Mann noch lebte?
Wenn er tot war, dann gewiß noch nicht so lange wie der ältere Mann. Möglicherweise hatte er stundenlang blutend in dieser eiskalten Gasse gelegen!
»Was ist los?« fragte Shotts, der Evan mit weit aufgerissenen Augen ansah.
Evan hielt eine Hand vor die Nase und die Lippen des Mannes. Er spürte nichts, nicht den Hauch von warmem Atem.
Shotts beugte sich vor und hielt die Laterne tiefer.
Evan nahm seine Taschenuhr heraus, wischte die Oberfläche mit der Innenseite seines Ärmels sauber und hielt sie dann dem Mann vor die Lippen.
»Was ist denn?« wiederholte Shotts, dessen Stimme schrill und scharf klang.
»Ich glaube, er lebt noch!« wisperte Evan. Er zog die Uhr weg und betrachtete sie im Schein des Lichtes. Sie war beschlagen, wenn auch nur ganz schwach. »Er lebt!« sagte er voller Freude.
»Sehen Sie!«
Shotts war Realist. Er mochte Evan, aber er wußte, daß der andere ein Pfarrerssohn war, und er machte gewisse Zugeständnisse.
»Vielleicht ist er bloß später gestorben als der andere«, sagte er begütigend. »Er ist ziemlich übel zugerichtet.«
»Er ist noch warm! Und er atmet!« beharrte Evan, der sich noch tiefer über den Mann beugte. »Haben Sie einen Arzt gerufen? Holen Sie eine Kutsche!«
Shotts schüttelte den Kopf. »Sie können ihn nicht retten, Mr. Evan. Dafür ist’s schon zu spät. Wäre gütiger, ihn jetzt hinübergehen zu lassen, ohne daß er irgendwas merkt. Ich glaube sowieso nicht, daß er weiß, wer es gewesen ist.«
Evan blickte nicht auf. »Ich habe nicht daran gedacht, daß er uns etwas sagen könnte«, erwiderte er, und es war die Wahrheit.
»Wenn er lebt, müssen wir tun, was wir können. Das ist selbstverständlich. Suchen Sie jemanden, der einen Arzt und eine Kutsche holt. Gehen Sie!«
Shotts zögerte und sah sich in der Gasse um.
»Ich komme schon klar«, sagte Evan kurz angebunden, obwohl er sich dessen keineswegs sicher war. Er fand es nicht gerade erstrebenswert, allein an diesem Ort zurückzubleiben. Er gehörte hier nicht her. Er war nicht einer von diesen Leuten, wie Shotts es war. Evan fragte sich, ob seine Angst in seiner Stimme durchklang.
Shotts gehorchte widerstrebend, nahm die Blendlaterne jedoch nicht mit. Evan sah, wie seine kräftige Gestalt an der nächsten Straßenecke verschwand, und spürte einen Augenblick lang Panik in sich aufsteigen. Er hatte nichts bei sich, womit er sich hätte verteidigen können, falls derjenige, der diese Morde begangen hatte, zurückkam.
Aber warum sollte er? Dieser Gedanke war absolut unlogisch. Evan wußte es besser. Er war lange genug bei der Polizei, genaugenommen über fünf Jahre, seit 1855, als der Krimkrieg halb vorbei gewesen war. Evan erinnerte sich an seinen ersten Mordfall. Bei dieser Gelegenheit hatte er William Monk kennengelernt. Monk war nicht nur der beste Polizist, der ihm je begegnet war, er war auch der Verwegenste und Mutigste, ein Mann, der mit seinem instinktiven Scharfsinn alle anderen in den Schatten stellte. Evan hatte jedoch als einziger begriffen, wie ungemein verletzlich Monk überdies war. Er hatte bei einem Kutschenunfall sein Gedächtnis vollkommen verloren, wagte es aber nur selten, jemanden in sein Geheimnis einzuweihen. Monk hatte nicht die geringste Ahnung, wer er war, worin seine Fähigkeiten und seine Schwierigkeiten bestanden. Er kannte weder seine Feinde noch seine Freunde. Er lebte von einer Bedrohung zur nächsten, während sich ihm ein Fingerzeig nach dem anderen bot, der ihm am Ende wenig oder gar nichts sagte, sondern nur eines von vielen Bruchstücken war.
Monk hätte keine Angst gehabt, allein in dieser Gasse zurückzubleiben. Selbst die Armen, die Hungernden und Gewalttätigen in
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