Stilles Echo
er aus einem anderen Bezirk kam und in einem der schlimmsten Elendsviertel Londons entweder sein Vergnügen gesucht hatte oder unehrlichen Geschäften nachgegangen war.
Der Anzug war an den Knien beschädigt worden, wahrscheinlich bei einem Sturz während des Kampfes. Ein Knie war aufgerissen, das Gewebe aufgescheuert; das andere war nur ausgeheult, und einige wenige Fasern waren gerissen. Auch am Gesäß entdeckte Evan eine stark zerschlissene Stelle, die noch feucht vom Rinnstein und stark verschmutzt war. Die Jacke sah noch übler aus. Beide Ellbogen waren aufgerissen, einer hatte sich beinahe ganz abgelöst. In der linken Seite war ein Riß, und eine der Taschen war mehr oder weniger zerfetzt. Allerdings förderte auch die gründlichste Suche, Zentimeter um Zentimeter, keinen Schaden zutage, der von einem Messer oder einer Kugel hätte herrühren können. Es gab jede Menge Blut, viel mehr als die Verletzungen des Toten es rechtfertigten. Es schien ohnehin von einem anderen zu stammen, da es auf der äußeren Seite der Kleidungsstücke dunkler und feuchter war und den Stoff anscheinend kaum durchdrungen hatte. Zumindest einer seiner Angreifer mußte ziemlich schwer verletzt sein.
»Wissen Sie, was da passiert ist?« fragte der Angestellte.
»Nein«, sagte Evan kläglich. »Bisher haben wir keine Ahnung.«
Der Angestellte brummte etwas Unverständliches und sagte dann: »Den hat man von St. Giles hergebracht, nicht wahr? Dann werden Sie es wohl nie rausfinden. Keiner von denen da macht den Mund auf, wenn’s um die eigenen Leute geht. Armer Teufel. Ich habe ein paar hier gehabt, die sind erdrosselt worden.
Der da muß sich böse mit jemand angelegt haben, daß man ihn so zugerichtet hat. Bloß um ihn auszurauben wäre das hier nicht nötig gewesen. Vielleicht ist er ein Spieler.«
»Vielleicht.« Auf der Innenseite der Jacke stand der Name des Schneiders. Evan notierte ihn genauso wie die Adresse. Vielleicht konnten sie den Toten auf diese Weise identifizieren.
»Wo ist Dr. Riley?«
»Oben auf der Station, denke ich. Falls er nicht wieder rausgerufen wurde. Ihr haltet den ganz schön in Trab, Ihr Jungen.«
»Nicht freiwillig, das kann ich Ihnen versichern«, sagte Evan müde. »Mir war’s viel lieber, wir würden ihn nicht brauchen.«
Der Angestellte seufzte und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er sagte nichts.
Evan ging die Treppe hinauf und durch die Korridore, fragte sich durch, bis er Riley fand, der eben ohne Jackett und mit aufgerollten Hemdsärmeln, die Arme mit Blut bespritzt, aus einem der Operationssäle kam.
»Ich habe gerade eine Kugel entfernt«, sagte er fröhlich.
»Ausgesprochen dämlicher Unfall. Wirklich wunderbar, dieses neue Narkosemittel. So was hat’s zu meiner Zeit nicht gegeben. Das Beste, was in der Medizin passiert ist, seit… ich weiß es nicht! Vielleicht einfach das Beste überhaupt – schlicht und ergreifend. Sie sind wahrscheinlich wegen Ihrer Leiche aus St. Giles gekommen?«
Riley schob die Hände in seine Taschen. Er sah nun müde aus. Ein Gewirr feiner Linien durchzog sein Gesicht, und er hatte etwas Blut auf der Stirn und auf der Wange, die er sich gerade rieb, ohne es selbst zu merken.
Evan nickte.
Ein Medizinstudent ging an ihnen vorbei; der junge Mann pfiff leise vor sich hin, bis er Riley erkannte, woraufhin er stehenblieb und sich straffte.
»Totgeschlagen«, sagte Riley und schürzte die Lippen.
»Keine Wunde, die von irgendeiner Waffe herrührt. Es sei denn, Sie betrachten Fäuste und Stiefel als Waffen. Kein Messer, keine Schußwaffe, kein Knüppel, soweit ich das beurteilen kann. Der Kopf hat nichts abbekommen außer einer Gehirnerschütterung, und die stammt von einem Sturz auf das Pflaster. Der Sturz hätte ihn jedoch nicht getötet, wahrscheinlich nicht mal bewußtlos gemacht. Er wäre vielleicht etwas benommen gewesen und ein wenig schwindlig. Gestorben ist er an inneren Blutungen. Gerissene Organe. Tut mir leid.«
»Hätte ein Mann allein ihn so zurichten können?«
Riley dachte ziemlich lange nach, bevor er antwortete. Er stand mitten im Korridor und bemerkte gar nicht, daß er anderen den Weg versperrte.
»Schwer zu sagen. Ich würde mich da nicht gern festlegen. Wenn ich diese Leiche für sich nehme und alle anderen Umstände außer Betracht lasse, würde ich auf mehr als einen Angreifer tippen. Wenn es nur ein einziger Mann gewesen ist, muß er wahnsinnig gewesen sein, um einem anderen Menschen etwas Derartiges anzutun. Er muß
Weitere Kostenlose Bücher