Stillmanns Münzen (German Edition)
klarer wird das letzte Bild von ihm. Dieser Zähne fletschende Mensch, der sich jeden Augenblick in eine Bestie verwandeln konnte. Obwohl sich Michael fragt, was diese ,Bestie' ihm antun sollte. Er kann sich nichts vorstellen; oder ein Blutbad, er zerstochen am Boden in seiner eigenen Blutlache, alles nur für eine Münze.
Michael versteht nun, warum das Bild in seinem Kopf vor dem realen Treffen auch bösartig wirkte. Er glaubt der Drohung, dass er es bereuen wird. All die Gelassenheit scheint dahin und auch wenn er seinen Pflichten in der Endschicht routiniert und automatisch nachkommt, fragt André ihn, ob alles okay sei. Michael zuckt wieder mit den Schultern. Am liebsten aber würde er seinem Vorgesetzten mitteilen, dass er Angst hat. Davor, dass der hagere Mann unten am Ausgang auf ihn warten wird, und er deshalb von André nach Hause begleitet werden möchte. Michael kennt diese Angst nicht, und so fürchtet er sich auch vor ihr.
Nur die zwei Münzen in seinen Taschen beruhigen ihn, auch wenn dieser Impuls, dieser innere Drang ihm unheimlich ist. Und es scheint nicht von ihm zu kommen, sondern von den Münzen selbst, als führten sie ein Eigenleben und als wäre doch etwas anderes in ihnen außer Metall. Eine suggestive Macht.
Der hagere Mann wartet nicht auf ihn. Mehrmals auf seinem Nachhauseweg kommen ihm Passanten entgegen, und sobald einer männlich und dünn erscheint, glaubt Michael, das ist er! Und jetzt wird er sich rächen. Dann sieht er die Passanten aus der Nähe und seine Panik verpufft.
Ich hatte mir zu Beginn überlegt, Michaels Geschichte nur im Kino spielen zu lassen. Wie ich aber zum wiederholten Mal bemerke, sie entwickelt ein Eigenleben. Wie diese Schrift in meinem Zuhause begann, so geht Michaels Geschichte jetzt in seinem weiter.
Er kommt sicher an, verschließt tief durchatmend die Tür und hängt sogar die Kette vor, was er sonst nie macht. Michaels Wohnung gleicht meiner. Sie hat nur ein Zimmer, das zum Wohnen, Leben und Schlafen reichen muss. Dementsprechend finden sich dort auch Sofa und Tisch, Bett und ein Schrank, in dem er nicht nur seine Kleidung aufbewahrt, sondern auch seine über die Jahre erweiterte Sammlung an Filmzeitschriften. Neben seinem Fernseher, der die Mitte des Zimmers einnimmt, stehen zwei Regale, gefüllt mit Welten anderer, DVDs und Blu-rays. Vielleicht besitzt er eine Spielkonsole, da bin ich mir noch nicht sicher, aber es würde zu ihm passen. Das Einzige, was sein Zimmer von meinem unterscheidet, ist der fehlende Schreibtisch, an dem ich gerade sitze und diese Sätze verfasse. Ich frage mich daher, was Michael tun würde, wenn bei ihm der Strom ausfiele. Bei Kerzenschein in seinen Filmzeitschriften lesen?
An jenem Abend, nach der Endschicht, fühlt er sich nach nichts mehr. Gleich nachdem er seine Jacke und Schuhe auszog, legt er sich auf sein Bett und starrt an die Decke. Doch sie bleibt nicht weiß, sondern füllt sich mit Bildern seiner heutigen Erlebnisse, die seinen Alltag so jäh unterbrachen. Michael fragt sich, ob er das wirklich erlebte. Könnte es nicht sein, dass er sich so ein Abenteuer nur wünscht?
Aber nein! Als er in seine Hosentaschen greift, findet er beide Münzen, und zur Bestätigung, als würde er es noch immer nicht glauben, holt er sie hervor und betrachtet sie im grellen Licht seines Zimmers.
Der Adler und der Kopf des Präsidenten, silberfarben, ,in God we trust' und 1973. Die Münzen erscheinen ihm nach wie vor identisch. Und dieser Impuls ist wieder da, er wird lauter und lauter. Michael denkt, hier sieht ihn ja keiner, also kann er es machen. Was soll schon geschehen? So hebt er die Münzen, je eine zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten und linken Hand, über sein Gesicht. Dann senkt er seine Hände hinab und legt sich die Münzen flach auf die Augen, nicht mehr wissend, welche von beiden welche ist.
V
Die Zahl 1973 führte mich auch zu ihr. Bisher hatte ich darauf gewartet und gehofft, dass sie mich ansprach. Ich wusste einfach nicht, wie ich mit ihr reden sollte. Zum Glück entsprach sie meinen Wünschen häufiger. Jedes Mal in ihrer so ureigenen, humorvollen Art. Dieses leicht Neckische ließ mich unwillkürlich grinsen. Eigentlich grinste ich ständig, wenn ich sie sah. Sie versteckte in ihren Aussagen auch leise Komplimente, selten zwar, aber umso einschüchternder.
Als ich einen neuen Pullover trug, begegnete ich ihr auf dem Weg zum Aufenthaltsraum. Wir blieben stehen, sie grinste mich an und sagte:
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