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Stillmanns Münzen (German Edition)

Stillmanns Münzen (German Edition)

Titel: Stillmanns Münzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Sidjani
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„Oh, du hast dich extra für mich schick gemacht, das brauchst du doch nicht.“ So plötzlich aber, wie ihre Nähe erschienen war, verschwand sie selbst wieder nach unten zum Ticketverkauf.
    Aber an jenem Tag, als ich das Graffiti entdeckte, konnte ich endlich mit einem Thema anfangen. Ich brannte darauf, sie zu sehen und mit ihr zu reden. Doch das war nicht alles. Viel wichtiger war, dass sie die Schnittstelle des Zusammenhangs war. Wenn mein Begleiter die Details sendete, und ich sie empfing und zu entschlüsseln hatte, dann war sie der Schlüssel.
    In meinem ersten Anlauf, ihr vom Graffiti zu erzählen, verhaspelte ich mich. Sie lachte mich an, bestimmt nicht aus, dafür ist sie zu höflich. Langsam wurde ich sicherer in ihrer Nähe. Sie trug eines dieser Hemden, die Verleiher für einen Film anfertigen und uns als laufende Werbefläche tragen lassen, und sie sah darin umwerfend aus. Während es allen anderen, mich eingeschlossen, so ergeht, dass wir darin verloren, deplatziert oder gequetscht wirken, je nach Körperfülle, füllte ihr schmaler Körper die Hemden mit ästhetischem Leben. Auch darin unterschied sie sich von den anderen, bestätigte in einem weiteren Detail, dass sie nicht zum Inventar gehörte.
    In einem zweiten Anlauf konnte ich ihr dann berichten, was mich beschäftigte. Worüber ich gestolpert war und warum ich mich verhaspelte, war der erste Satz. Der erste Satz einer längeren Mitteilung ist sehr entscheidend. Ich bemerkte es stets, wenn ich eine Geschichte begann. Und wie sollte der erste Satz lauten ohne dass ich verrückt oder paranoid klang? Ich war überzeugt, auf etwas Einmaliges, Großartiges gestoßen zu sein.
    Nachdem ich darauf gewartet hatte, endlich mit ihr allein zu sein, auf dem Balkon, wohin wir Raucher laufen, um fünf Minuten aus der Arbeit zu sein, sagte ich also:
    „Erinnerst du dich an das Jahr 1973? Wahrscheinlich nicht, es spielt ja keine große Rolle. Auch nicht für mich. Aber kennst du das Gefühl, dass alles einen Sinn macht, auch wenn es nüchtern betrachtet keinen Sinn gibt? Diese Münze, die ich gefunden habe, und der Fahrstuhl in unserem Haus sind doch beide aus demselben Jahr. 1973. Und jetzt hat irgendjemand am Bahnhof genau diese Jahreszahl an ein Geländer geschrieben. Von allen Jahreszahlen, verstehst du? Warum, frage ich mich, und warum fällt es mir auf?“
    Ihr Blick war entlarvend. Ein schmales Lächeln umschmeichelte ihren Mund, aber ihre Augen sprachen von Skepsis. Ein Sich-Fragen, was mit ihrem an sich netten, doch schüchternen Kollegen so plötzlich geschehen war. Bevor sie etwas sagen und meine Gedanken als Irrwege entlarven konnte, sprach ich schnell weiter. Auch weil ich befürchtete, jeden Moment käme ein Kollege zu uns hinaus.
    „Du hast mich ja auf diesen Zusammenhang hingewiesen, weißt du noch? Und ich dachte, vielleicht fällt dir etwas ein zu diesem Jahr. Oder zu N.Y., den Buchstaben, die davor stehen.“
    „N.Y.?“, fragte sie dann und ihre Stimme zog mich aus meiner unsicheren Welt. Sie klang neugierig. „N.Y. für New York?“
    „Das habe ich auch gedacht.“
    „1973 wurde dort das World Trade Center eingeweiht und eröffnet“, sagte sie.
    Meine Gedanken kreisten. Wir arbeiten in einem Kino, das zum sogenannten Mundsburg-Center gehört, welches eine Art Wahrzeichen des Stadtteils ist. Zu diesem Center, ein langes Gebäude mit Einkaufszentrum, gehören drei Hochhäuser, die beinahe so hoch ragen wie das eigentliche Wahrzeichen unserer Stadt, der Fernsehturm. Ich war überzeugt, dass dieses Jahr auch mit unserem Kino zu tun hatte. Und das Graffiti war ein Omen. Nur konnte ich nicht einordnen, ob ein gutes oder schlechtes.
    „Weißt du, damals nach den Anschlägen auf das World Trade Center, haben die Leute die Mundsburg-Tower damit verglichen. Sie stellten sich die Frage, was wäre, wenn es hier geschieht.“
    „Wenn das hier ein Film wäre“, sagte ich dann, „dann wären diese Zufälle also Hinweise, dass etwas passieren wird.“
    Darauf wollte ich die ganze Zeit hinaus. Man verstehe mich nicht falsch. Ich wollte nicht, dass irgend jemandem etwas geschieht. Es war das kindliche Verlangen nach einem Abenteuer, am liebsten mit der Frau meiner Träume, und ich wünschte es mir so sehr, dass ein Hirngespinst ohne weiteres real werden konnte. Und sie ließ sich darauf ein. Warum das so war, kann ich nur spekulieren. Vielleicht langweilte sie sich gerade in ihrem Leben, mit ihrem Freund, wie ich hoffte. Oder in ihr lebte ein

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