Stimmen der Nacht
und Südafrika ausgewandert, und nur die Verzagten, die ewigen Duckmäuser und Mitläufer, sind im Reich geblieben. Ihr Haß auf die Besatzer ist von dumpfer, hilfloser Natur, und die Jungen verachten sie dafür und zeigen ihre Verachtung, indem sie Waffenlager ausrauben und Kasernen sprengen und jedem alliierten Soldaten, der ihnen allein begegnet, den Kopf abschneiden, ohne Rücksicht auf die Vergeltungsmaßnahmen, die nach jedem Anschlag die Dörfer treffen.
Die Jeeps hatten sie fast erreicht.
Splitz zog nervös an seiner türkischen Zigarette und sah den beiden französischen Offizieren entgegen, die aus den Jeeps sprangen, noch ehe sie angehalten hatten. Schnauzbärtige, alte Männer, alt genug, um noch in Französisch-Guayana oder Algerien gekämpft zu haben, und vielleicht gehörten sie zu jenem illustren Kreis hoher Militärs, die den Staatspräsidenten auf seinen Sonntagnachmittagsspaziergängen durch den Park von Le Notre begleiten durften; der huldvolle Gunstbeweis eines Edelmannes für die Veteranen des Jahres 1968, dem heißen Mai der Fünften Republik, in dem die Armee sechstausend Menschen auf der Champs Elysee und dem Place de la Concorde erschlagen hatte.
Doch jetzt gab es keine Kommunistenpogrome mehr; nur noch den schmutzigen Krieg gegen die braune Guerilla an Rhein und Mosel und die allgegenwärtige, routinierte Repression im ganzen Land, die einzige Antwort der Militärs auf die Heere der Arbeitslosen und das Siechtum einer Wirtschaft, die sich nie vom Niedergang des deutschen Nachbarn erholt hatte.
Splitz sprach mit den beiden Offizieren; sein Französisch war glatt und flüssig, sahnig wie Camembert. Die Offiziere antworteten; ein Strom erregter Worte, untermalt von großartigen Gesten und ausdrucksvollem Mienenspiel. Splitz’ Gesicht wurde immer düsterer.
Schlechte Nachrichten, sagte sich Gulf. Müde rieb er seine Augen, und obwohl von der Elektrischen Klette nichts zu sehen und zu hören war, spürte er Elizabeths Gegenwart wie eine körperliche Last, schwer wie die Schwüle der Nacht. Aber Elizabeth war sein Problem, nur seins. Der CIA und dem französischen Militär ging es um die Stimmen in Köln, um die Drohungen der Toten, die sich dem Tod verweigerten. Vielleicht bedauerten sie ihn; vielleicht hatten sie Mitleid mit ihm. Aber mehr noch hatten sie Angst: Angst vor den Verrückten in Deutsch-Amerika, Angst davor, daß die Welt von den Stimmen im Dom erfuhr, den Stimmen, die es nicht geben durfte und die der Funke sein konnten, der den Weltenbrand entfachte.
In diesem Moment drehten sich die Offiziere um und starrten ihn an. Ihre Augen waren weiße Flecke in der Nacht. Sie starrten ihn an, wie man eine Erscheinung anstarrt, und aus der Dunkelheit sprach Elizabeth zu ihm.
»Wie sehr habe ich dich geliebt! Wie oft habe ich mir gesagt: Das ist der Mann, mit dem ich leben kann … bis ich deine Kälte spürte und das Eis, das dich umgibt. In deinem Leben hat es immer geschneit, und im ewigen Eis frieren die Gefühle ein. Mit Permafrost im Gehirn werden die Menschen zu Eisblumen an den Fenstern deiner Augen. Die Physiker haben sich geirrt. Der Kältetod des Universums ist keine kosmische, sondern eine rein private Angelegenheit. Alle Bewegung erstarrt, alles Denken hört auf, alles Leben erlischt. Wie hätte ich dir helfen können, wo du noch nicht einmal bemerkt hast, daß du Hilfe brauchst? Wie hätte ich dich erreichen können, wo ich nicht wußte, wo du zu finden bist? Wo bist du gewesen, Jakob? Bist du hinausgefroren, hinausgefroren aus der Wirklichkeit, in eine Welt jenseits des absoluten Nullpunkts, in eine Minus-Welt? Sag, gibt es sie, diese Welt neben der Welt, in der sich nichts regt und nichts bewegt und in der die Liebe nichts ist, nicht einmal ein Wort? Wenn es diese Welt gibt, dann ist sie in dir und damit so fern von mir wie die Sterne, wie die Milchstraßensysteme, getrennt von mir durch Raum und Zeit und das Muster deiner Wirklichkeit.«
»Elizabeth!« sagte Gulf. Ihm schwindelte, alles drehte sich, und er drehte sich mit und suchte nach ihr, aber er fand sie nicht. »Elizabeth!« schrie er. »Verschwinde! Geh fort! Geh endlich fort und laß mich in Ruhe, Elizabeth, ich flehe dich an …!«
»Ich wollte dir folgen«, sagte Elizabeth. »Ich wollte dorthin, wo du gewesen bist, und ich wußte, daß ich so werden mußte wie du, um dir näher zu kommen. Ich bin dir gefolgt. Du weißt, daß ich dir gefolgt bin. Schritt für Schritt, mit jedem Tag ein Stückchen mehr. Ich
Weitere Kostenlose Bücher