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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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verdammte Bauer mit seinem kindlichen Glauben an das Glück des Landlebens und das Paradies auf Erden, errichtet auf den Schollen fruchtbarer Acker und dem saftigen Gras weiter Wiesen.«
    Und was haben wir statt dessen bekommen? fragte sich Gulf. Ein Europa in Jahrzehnten dauernder Agonie, ein Deutschland mit großen Wäldern, goldenen Feldern und verfallenen Städten – und einen ganzen Kontinent voller Nazis, verrückt vor Rache und dreistem Größenwahn … Und die Toten, ja, die Toten, die nicht ruhen wollen.
    »Europa«, wiederholte Splitz, »liegt im Schlaf danieder, im schweren Schlaf, und wir schlafen mit. Nur die Deutschen nicht. Sie schlafen nicht, und wissen Sie, warum sie nicht schlafen? Weil sie tot sind, das ist es, sie sind tot, aber den Tod gibt es nicht mehr. Sie können nicht leben und sie können nicht sterben. Was bleibt ihnen dann noch? Was können sie tun in ihrem Gespensterland? Es gibt keine Zukunft für sie und keine Rückkehr in die Vergangenheit.«
    Splitz versank in brütendes Schweigen. Die Stille dehnte sich ins Unwirkliche, als wäre der Mann an Gulfs Seite, der Fahrer, der Jeep, die Straße, der Wald, die ganze Welt bloßer Schein, ein Schattenland im Nichts. Alles schien zurückzuweichen, zu verblassen, in ätherische Leere zu entweichen, wie Tau, der in der Morgensonne verdunstete.
    Der Fahrer schaltete das Radio ein. Musik dröhnte in das Schweigen, Hamburg in Twilight von Paul McCartney, dem Engländer, der auch die Erkennungsmelodie von Abenteuer Live komponiert hatte.
    Gott, wie weit die Show zurücklag!
    Und wie seltsam, dachte Gulf, ein Lied über eine Stadt zu schreiben, die von Morgenthaus Deutschlandplan vielleicht am schlimmsten heimgesucht wurde. Wie schrecklich muß es sein, selbst für eine Stadt, selbst für Stein und Asphalt, die ganze Welt zu Gast zu haben, um dann aufgegeben zu werden, zu verfallen, in Ruinen zu sinken …
    Splitz sah schnaufend auf seine Uhr und brummte: »In einer halben Stunde erreichen wir die Saar. Wir schließen uns einem Konvoi der französischen Armee an. Mit ihm fahren wir ins Rheinland.« Er lächelte freudlos. »Man wird uns Uniformen geben, französische Uniformen. Die Augen der ODESSA sind überall. Niemand darf erfahren, daß Sie im Krautland sind, Jakob. Vor allem nicht Bormann. Sie sind berühmt in Deutsch-Amerika, wissen Sie das?«
    Natürlich wußte er es.
    Elizabeth war ein Gottesgeschenk für den Mystizismus, den Ahnenkult und dumpfen Okkultismus der Latinodeutschen. Sie liebten Elizabeth. Diese verdammten Nazis liebten sie tatsächlich, als hätten sie geahnt, was nun in Köln geschehen war, als hätten sie in ihr eine Botin gesehen, eine Prophetin, deren Rückkehr von den Toten die Auferstehung des Führers ankündete.
    »Morgen früh sind wir in Köln«, sagte Splitz. »Dann können Sie sie selbst hören. Wie sie reden und wie sie streiten, wie sie fluchen und drohen. Und dann können Sie versuchen …«
    Er verstummte.
    Was? dachte Gulf. Was stellt ihr euch vor? Was erwartet ihr von mir? Was erwartet ihr alle? Daß ich Köln betrete und die Stimmen verklingen? Daß mit meinem Erscheinen Stille in den Ruinen einkehrt und die Gespenster fliehen, dorthin verschwinden, wohin sie gehören? In das Nichts, das Schweigen des Grabes? Daß all dies durch meine bloße Anwesenheit erreicht wird, obwohl es mir in diesen vier Jahren nicht einmal gelungen ist, Elizabeth zum Schweigen zu bringen?
    Aber, durchfuhr es ihn, welche Hoffnung bleibt uns noch? Was können wir sonst tun? Wenn Bormann davon erfährt, der greise, grausame Wahnsinnige im sicheren Granit der Anden … Für die Nazis in Deutsch-Amerika ist dies tatsächlich die Wiederauferstehung ihres Heilands, und sie werden marschieren, Gott, sie werden alles riskieren und alles einsetzen, was sie haben, um zu ihrem Führer zu pilgern und ihn aus den Händen seiner Feinde zu befreien.
    Noch im Tode ist Hitler ein Mythos, eine Legende.
    Was wird er erst sein, wenn er von den Toten wiederaufersteht?

4
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Sie waren
die ganze
Nacht hindurch
gefahren,
eine langgezogene
Kolonne
    fleckig lackierter Jeeps, Armeelastwagen und Schützenpanzer, die sich rasselnd und quietschend über die Alte Rheinstraße Richtung Köln wälzten, und erst als der Morgen graute und über dem dumpfen Rauschen des Stroms das Konzert der Vögel einsetzte, schreckte Gulf aus seinem Schlaf.
    Er hörte Schüsse und Schreie und noch mehr Schreie und das Heulen und Grollen einer explodierenden Granate.

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