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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Frankreich, träumt auch. Von der goldenen Vergangenheit und der rosigen Zukunft, um die graue Gegenwart zu vergessen. Ganz Europa liegt im schweren Schlaf danieder, und wir alle schlafen mit.« Splitz warf den Zigarettenstummel zu Boden und trat ihn aus. »Es ist unmöglich, aus diesem Schlaf zu erwachen«, sagte er. »Jahrzehnte schon schlafen und träumen wir, und wer so lange träumt, der weiß nicht mehr, was es heißt, wach zu sein.
    Es ist Morgenthaus Schuld. Morgenthau hat den Schlaftrunk gebraut. Dieser ganz und gar verrückte Jude im Finanzministerium hat Deutschland zerschlagen und in ein Ackerland verwandelt, damit es schlafen sollte, tausend und mehr Jahre lang, damit es nie wieder marschieren und die Welt mit Krieg überziehen konnte. Er hat nicht gewußt, was er tat. Er hat an seine Kinder gedacht, an die Konzentrationslager, an die Duschräume und die Leichenberge. Er wollte ein für allemal verhindern, daß dieses Deutschland erneut Krieg führt, und er hat es verhindert. Aber um welchen Preis? Die Deutschen sind nicht sanft und friedlich, sie sind nicht gebrochen, sie haben sich nur geduckt. Und Europa … Dieses Deutschland, dieses Trümmerfeld im Herzen Europas, liegt wie ein Würgeeisen um Frankreich und Englands Kehle. Wie ein Mühlstein, der Belgien und die Niederlande erdrückt, Italien die Luft abschnürt und Polen, der Tschechei, Österreich und Dänemark jede Hoffnung nimmt.
    Man kann nicht mitten in Europa ein Grab schaufeln, ohne daß der ganze Kontinent zu einem Friedhof wird. Man hätte Deutschland nicht zerschlagen dürfen, nicht auf diese Weise.«
    »Aber das war der Preis für die Freundschaft mit Rußland«, erinnerte Gulf. »Stalin hätte ein wiedererstarktes Reich niemals zugelassen. Kein vernünftig denkender Sowjetmensch hätte dies zulassen dürfen, nicht nach diesem Krieg und den Millionen Toten. Was hätte Roosevelt sonst tun können? Es mußte etwas geschehen.«
    »Roosevelt!« Splitz lachte rauh. »Unsinn. Roosevelt hat nichts getan, nichts begriffen. In seinen beiden letzten Amtsjahren war er zu krank, um die Politik zu bestimmen. Er hat die Verantwortung abgewälzt, und Morgenthau hat sie dankbar übernommen. Nicht Roosevelt hat 1946 die Außenpolitik bestimmt, sondern Morgenthau. Morgenthau und die Interessengruppen, die hinter ihm standen: die Industriellen, die nicht in Europa investiert hatten und die deutsche Konkurrenz auf dem Weltmarkt ausschalten wollten.
    Vielleicht, wenn Morgenthau früher gestorben wäre … wenn Truman schon 1944 oder 1945 Präsident geworden wäre … Er war der schärfste Kritiker des Morgenthau-Plans. Hinter ihm standen die Großbanken und die Großkonzerne – die Morganbank, General Electric, General Motors, ITT. Truman hätte Morgenthau stoppen können. Aber Roosevelts Todeskampf dauerte zu lange, und Morgenthau war ein zu schlauer Fuchs. Er wußte, daß er sich beeilen mußte, um seinen Plan durchzuführen, und er hat sich beeilt.«
    Splitz griff nach seiner Zigarettenschachtel, aber sie war leer. Er sagte etwas auf französisch zu dem Fahrer, und der Fahrer reichte ihm eine blaue Packung. Splitz nahm eine der filterlosen Zigaretten und zündete sie an.
    »Morgenthau hat sich über alle Widerstände hinweggesetzt. Er hat sie alle überzeugt, geködert, gekauft. Churchill mit dem Versprechen auf wirtschaftliche Vorherrschaft durch die Vernichtung des stärksten europäischen Konkurrenten. De Gaulle mit der Zwangsarbeit Hunderttausender deutscher Dienstverpflichteter, die das zerstörte Frankreich wieder aufbauen mußten, und natürlich durch die Angliederung des Saarlands. Und Stalin war ohnehin auf seiner Seite. Stalin konnte so sicher sein, daß nie wieder ein deutscher Soldat nach Rußland marschieren und nie wieder deutsche Heere Rußland verwüsten würden.
    Rußland war Morgenthaus eigentliches Motiv. Die Furcht um das Leben seiner Kinder, wenn Feindschaft zwischen den USA und der UdSSR entstehen würde. Die Furcht vor einem Krieg zwischen uns und den Russen. Mit der Zerschlagung Deutschlands wurde die russisch-amerikanische Freundschaft erkauft. Und als Stalin zugesagt hatte, gab es kein Zurück mehr. Im Frühjahr 1947, als Roosevelt endlich starb und Truman Präsident wurde, waren die Wege vorgezeichnet. Eine Abkehr vom Morgenthau-Plan hätte eine Konfrontation mit Moskau bedeutet, vielleicht sogar eine bewaffnete Auseinandersetzung auf dem Gebiet des einstigen Reiches.
    Dieser verdammte Apfelzüchter!« sagte Splitz. »Dieser

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