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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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habe den Schnee geatmet. Ich habe den Schnee geschnupft, die Kälte, gefangen im weißen Kristall, und seine Kälte wurde zu meiner Kälte, sein Frost wurde zu meinem Frost. Ich habe gespürt, wie sich der Raum um mich faltete, wie die Zeit versandete und die Materie durchlässig wurde. Ich war kalt, bis tief im Herzen kalt, und zu spät habe ich erkannt, daß diese Kälte keine Ähnlichkeit hatte mit jenen Minusgraden, in denen du gelebt hast. Ich habe mich entfernt von dir, statt dir näherzukommen. Ich bin vom Weg abgekommen, statt dir meinen Arm zu reichen und dich heimzuführen. Noch immer irrst du in deiner Welt umher und suchst nach dir, ohne zu ahnen, daß du dich niemals finden wirst …«
    »Hör auf!« brüllte Gulf. »Hör auf, hör endlich auf!«
    »Ich weine um dich, Jakob. Ich weine hier, hier bei mir, weine heiße Tränen, aber nicht heiß genug, und ich rufe nach dir, mit lauter Stimme, aber nicht laut genug. Und wenn du mich hörst, so hörst du mich doch nicht; wenn du mich verstehst, so verstehst du nicht richtig. Denn dort, wo du bist, da gibt es kein Verstehen, da gibt es nichts, nicht einmal dich selbst. Ich liebe dich, Jakob. Selbst in den Flammen habe ich dich geliebt, selbst in den Schmerzen des Sterbens und in der Trauer des Todes. Es gab keine Möglichkeit, zu dir zu kommen, und so mußte ich fort, um bei dir zu bleiben … dorthin, wo Worte alles sind, was noch vom Leben bleibt. Nur Worte, tausend und tausend Worte, und in ihnen hallt die Erinnerung nach, die Erinnerung an dein Lächeln, so blank wie das Gesicht eines Gletschers, die Erinnerung an deine Traurigkeit, gefangen im Verließ deines Kopfes, in einer Tiefe, die auszuloten alle Lichtjahre nicht vermögen, wo nur Stille herrscht und in der Stille ein Echo, das hohle Echo deiner unerfüllten Sehnsucht: Wann stirbst du endlich aus dem Sein und nimmst von mir die Seelenpein? …«
    »Laß mich«, krächzte Gulf. »Bitte, laß mich. Bitte.«
    Er zitterte, er bebte an allen Gliedern. Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter, schüttelte ihn.
    »Beruhigen Sie sich«, stieß Splitz hervor. »Verdammt, beruhigen Sie sich. Kommen Sie. Wir müssen sofort aufbrechen. Schnell. Gefahr droht. In der Nähe von Köln hat man zwei Männer festgenommen. Latinodeutsche. Spione der ODESSA. Vielleicht gibt es dort noch mehr von ihnen, vielleicht sind andere entkommen, vielleicht haben sie die Stimmen gehört, und in Deutsch-Amerika weiß man Bescheid.«
    Splitz zog ihn zu den Jeeps, vorbei an den französischen Offizieren, die vor ihm zurückwichen, mit bleichen Gesichtern und Angst in den Augen. Dann saß er im Jeep, benommen, teilnahmslos, und der Wagen schoß mit durchdrehenden Reifen los und über das Rollfeld, hinein in die Dunkelheit.
    Splitz saß neben ihm, schnaufend, rauchend, mit Schweißperlen auf der Stirn und der Oberlippe. »Wir werden es nicht mehr lange verheimlichen können«, sagte er. »Und was geschieht, wenn sie auch an anderen Orten zu reden beginnen? Im Spessart, im Erzgebirge oder in Berlin?«
    Gulf blickte auf. »Was sagen sie, diese Stimmen in Köln? Worüber reden sie?«
    Splitz zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch aus, die Augen starr auf den Nacken des Fahrers gerichtet. Durch das schmale Rückfenster fiel Licht: die tanzenden Scheinwerferstrahlen des anderen Jeeps, der ihnen folgte.
    »Der eine«, sagte Splitz, »das Ungeheuer mit der barschen Stimme, erzählt vom Mief und vom Schmutz des Wiener Männerheims. Vom Makel ungewaschener Unterhosen und dem ranzigen Schweiß gescheiterter Existenzen, vom Sommer auf den Parkbänken Wiens, von den ziellosen Spaziergängen im Park von Schönbrunn, von Lügen und Grausamkeiten, Verschwörungen und bösen Wesen, vom dornenreichen Weg aus dem Männerheim in der Wiener Meldemannstraße in die Reichskanzlei von Berlin und bis hinunter in den Stahlbeton des Führerbunkers. Und vor allem vom Blitz erzählt er, vom sengenden Blitz aus heiterem Himmel …«
    »Die Bombe hätte ihn töten müssen«, murmelte Gulf. »Sie hätte ihn für alle Zeiten töten müssen. Warum spricht er noch? Warum schweigt er nicht? Und warum spricht Elizabeth zu mir? Was ist geschehen, was ist mit der Welt geschehen, daß diese Dinge möglich sind?«
    Splitz lehnte sich zurück und sah zur dunklen Wand des Waldes und den funkelnden Katzenaugen der Straßenpfähle. »Manchmal glaube ich zu träumen. Ich glaube zu schlafen und zu träumen, ohne jemals erwachen zu können. Dieses Land hier, dieses

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