Stimmen der Nacht
Maschinengewehre hämmerten. Weitere Granaten detonierten.
Mit einem gepreßten Fluch trat der Fahrer das Gaspedal durch. Der Jeep schleuderte mit quietschenden Reifen dicht an einem schlingernden Armeelaster vorbei. In der Verdeckplane klafften Einschußlöcher wie ausgeblutete Wunden. Mündungsblitze am Straßenrand, Schatten hinter den Gebüschen. Der Jeep vor ihnen wurde von einer Salve getroffen, scherte aus, rammte einen Straßenpfosten und kippte polternd in den Graben.
Das Morgenlicht war grau. Pulverdampf mischte sich in den Nebel, der vom Rhein heraufkroch. Wieder das Heulen einer Granate, das Donnern einer Explosion.
Granatwerfer, durchfuhr es Gulf. Werwölfe!
Ein Schlag traf ihn, mörderischer, greller Schmerz wühlte in seiner Schulter, und der Jeep drehte sich, alles drehte sich, der Rhein, der bedeckte Morgenhimmel, die Straße und die Armeefahrzeuge, die Soldaten, die wie aufgeschrecktes Wild über die Straße sprangen, zwischen den Jeeps und den Lastern, und dann strauchelten, taumelten, tot zu Boden stürzten. Weitere Maschinengewehre eröffneten aus der Deckung der Büsche und Bäume das Feuer. Die Druckwelle einer explodierenden Granate hob den Jeep einen Meter in die Luft. Der Fahrer sackte über dem Steuer zusammen. Seine Uniformmütze war zur Seite gerutscht und entblößte blutgetränktes Haar. Der Jeep wurde ein letztesmal durchgeschüttelt und kam endlich zur Ruhe; schief stand er am Straßenrand, vom Nebel umwabert, und aus den Nebelschwaden hämmerten Schüsse, heulten Granaten.
Gulf wollte schreien, aber seine Kehle war vom Schmerz zugeschnürt. Er brachte keinen Laut heraus. Der Fahrer rührte sich nicht. Auf der Straße kämpften und starben die Soldaten: Blut auf dem Asphalt, Explosionen im Nebel, Todesschreie in der kühlen Morgenluft.
So kühl, dachte Gulf betäubt. Es ist so kühl im Reich. Wie in einer Gruft.
Er sah Splitz an, der rot und tot neben ihm lag, halb vom Polster heruntergerutscht, die Arme hochgerissen, noch im Tode die brennende Zigarette im Mund, und so rot an Bauch und Hals, so blutig rot …
»Und wenn du stirbst«, flüsterte ihm Elizabeth zu, »wenn dein Leben erlischt und die Kälte sich ausbreitet bis ins Mark deiner Knochen und die Maske deines Lächelns, dann hab keine Angst, denn ich warte auf dich. Hier bei mir erwarte ich dich, im Raum zwischen den Räumen, in der Zeit ohne Zeit, hier allein bei mir, in der Finsternis, die nie das Licht gekannt hat. Ich warte auf dich, wie ich immer auf dich gewartet habe, und es war das Warten, das mich krank gemacht hat.«
Krank, ja, dachte Gulf, während der Schmerz langsam nachließ. Du bist krank gewesen, Elizabeth, an der Seele krank. Und diese Liebe in dir, diese schreckliche, erdrückende Liebe, die kein Erbarmen kannte, eine mörderische Liebe, die der Angst vor dem Verlust der Liebe entsprang …
»Komm«, sagte Elizabeth, »komm zu mir, komm gleich, komm jetzt, im Morgengrauen. Ich habe den Morgen immer gemocht, die Frische, das Versprechen so vieler guter Dinge, die neue Kraft, die der Schlaf gebracht hat. Am Morgen habe ich deine Kälte nie so sehr gespürt wie am Abend, dem enttäuschenden Ende des Tages, der nichts gehalten hat, nichts von alldem, was hätte sein können, und der sich schamvoll verfinsterte und die Lügen im dunklen Schoß der Nacht verbarg. Und dann die Worte, all die unausgesprochenen Worte, die ich nie vergaß: Ich lieb dich nicht und hasse dich und bin auf deinen Tod erpicht …«
Blut rann über Gulfs Oberarm, durchnäßte den Stoff der französischen Uniform. Die Schüsse ließen nach, die Schreie wurden leiser und das Knistern und Knacken, das wilde Geprassel der brennenden Fahrzeuge trat in den Vordergrund. Gulf blickte nach draußen, aber alles verschwamm vor seinen Augen, so daß er statt Menschen wolfsähnliche Gestalten aus dem Nebel schleichen sah.
»Der Tod«, flüsterte Elizabeth, »der Tod ist nichts, was zu fürchten ist. Der Tod ist das einzige gerechte Gericht auf dieser Welt. Er holt jeden aus dem Leben, er holt jeden Menschen und bringt ihn dorthin, wo er schon immer war und immer hingehörte. In die Stille des Ichs und in die Leere des Herzens. Erst im Tod ist man es selbst, der man ist. Erst im Tod wird man zu dem, der man war. Der Tod ist so grausig hell, viel heller als das Sterben, das das Leben ausleuchtet und alles enthüllt. Das Sterben verzeiht, aber der Tod, er zeigt. Er zeigt dich dir selbst, bringt alles hervor, und nur das bleibt, was nie gewesen
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