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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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weiter und irgendwann stürzte er dann, weil sein Körper sich entschlossen hatte, der Ziellosigkeit ein Ende zu machen, und weil sein Geist müde war von der Flucht und dem Sterben, das in diesem Land schon seit fünfzig Jahren andauerte und nun, wo sich der Unterschied zwischen Leben und Tod verwischte, vielleicht niemals enden würde.
    »Durst«, krächzte er. »Wasser. Bringt mir etwas Wasser …«
    Er wußte nicht, ob es unter den Werwölfen jemand gab, der Englisch verstand, oder ob sie sich trotz ihrer preußischen Gnadenlosigkeit, ihrer dumpfen teutonischen Wahnidee von Härte und Opfertum, noch einen Hauch Erbarmen bewahrt hatten; jemand drehte ihn auf den Rücken, stützte seinen Kopf und setzte ihm den Hals einer Feldflasche an die Lippen.
    Gulf trank. Köstliches Quellwasser, prickelnd und frisch, Wasser so rein wie die Waldesluft. Er trank gierig, bis ihm die Flasche fortgenommen wurde, und schlug die Augen auf.
    Dicht vor seinen Augen öffnete und schloß sich ein zahnloser Mund und sagte mit krächzender Stimme deutsche Worte, aber auf eine Art, die selbst ein Amerikaner verstehen konnte. Hier bist du jetzt, Bürschlein, sagte die alte Frau, die verhutzelte Hexe in dem vielfach geflickten, groben Kittel, und hier bleibst du jetzt, und dieses Jetzt wird länger dauern, als du dir vorzustellen vermagst. Die Vettel nickte und kicherte und brabbelte weiter, bis der Schwarzbart aus dem Zwielicht trat und sie mit barscher Stimme fortscheuchte.
    Breitbeinig baute er sich vor Gulf auf.
    »Welcome, Mister Gulf«, sagte er grinsend, weiße, blitzende Zahnreihen entblößend. »Welcome in the Reich, Mister Gulf!«
    Hinter dem Schwarzbart reckten sich hohe, knorrige Bäume empor und schlossen mit ihrem Blätterdach den Himmel aus. Uralte deutsche Eichen, unter denen sich eine Kate gegen das Moos duckte, ein schiefes, kleines Hexenhaus mit unverputzten Steinwänden, schmalen Fensteröffnungen und strohgedecktem Dach. Die niedrige Tür stand offen, hing schief in gußeisernen Angeln, und auf der Schwelle, fast eins mit dem dunklen Hintergrund, stand jetzt, auf einen knorrigen Stock gestützt, die Alte und lächelte ihr zahnloses, böses Lächeln. Weiter rechts lichtete sich der Wald allmählich. Die Bäume wichen auseinander und säumten das Bett eines kleinen Flusses. Am jenseitigen Ufer standen vereinzelte, schwarzweißgescheckte Fachwerkhäuser. Von irgendwoher drang das Klappern einer Wassermühle.
    Bis auf das Klappern war es still im Walddorf. Die Fensterverschläge waren geschlossen, die Türen verriegelt. Keiner der Bewohner zeigte sich in den Gärten mit ihren Bohnenstauden und Erdbeerbeeten, den schmalen Streifen Petersilie und Schnittlauch und den Kolonien der Apfel-, Birnen- und Kirschbäume. Vom Fluß näherte sich eine Gruppe Werwölfe. Sie schleppten große zerbeulte Kessel, aus denen Wasser schwappte. Andere Männer hatten sich um die Feuerstelle neben der Kate versammelt und trockene Holzscheite in Brand gesetzt. Ein Dutzend weiterer junger Burschen lag erschöpft im Moos, zwischen den Baumwurzeln, an die Stämme gelehnt. Einige waren verwundet, manche schliefen, doch selbst im Schlaf klammerten sie sich an ihre Maschinenpistolen, als suchten sie Sicherheit und Schutz beim kalten Stahl der Waffen. Grobkörniges, fast schwarzes Brot und Käsestücke wurden verteilt, später brachte jemand geräucherten Schinken und Dörrfleisch, einige Körbe Obst und zwei kleine, hölzerne Bierfässer.
    Aus dem Dorf? Geraubt, oder von den Bewohnern freiwillig herausgegeben?
    Die Alte kam aus ihrem Hexenhaus geschlurft und schwatzte auf den Schwarzbart ein, während sie mehrmals auf Gulf deutete. Sie kicherte dabei, daß es Gulf schauderte. Der Schwarzbart knurrte und nickte schließlich mit sichtlichem Widerwillen. Die Vettel verschwand wieder in der Kate. Kurze Zeit später kehrte sie mit einer großen, dampfenden Tasse zurück und kniete neben Gulf nieder.
    Aus der Tasse – Meißener Porzellan, fleckig, am Henkel gesplittert und wieder geklebt – stieg Kräuterduft auf; Johanniskraut und Wolfsblume und noch etwas anderes, Scharfes. Der Kräutertee war heiß und ungesüßt und so bitter, daß es Gulf den Gaumen zusammenzog, aber die Alte gab keine Ruhe, bis er die Tasse geleert hatte. Danach entfernte sie den Verband, untersuchte brabbelnd und kichernd seine Wunde und schlurfte schließlich wieder davon.
    Der heiße Tee hatte Gulf angenehm gewärmt, ihn aber auch benommen gemacht, schwer im Kopf und in den

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