Stimmen der Nacht

ist. Sehnsucht, mit den Jahren erstarrt. Trauer, nie gelindert, Glück, nie erreicht, Schmerz, nur betäubt und nie geheilt. Es gibt soviel Leere in uns, soviel Vakuum, neben dem die Leere zwischen den Sternen und das Vakuum zwischen den Milchstraßen verblassen. Niemand ahnt etwas von den wahren, furchtbaren Ausmaßen dieser Leere. Wir brauchen soviel und erhalten so wenig. Wir haben alles verdient und nichts bekommen, und was wertvoll schien, stellt sich als Trug heraus, was befreiend war, wird zur Fessel, was Glück versprach, gerät zum Hohn. Vertane Zeit, verpaßte Gelegenheit, ewiges Warten, das ist das Leben, Jakob, und das, was man fühlt. Es sind die Gefühle, die das Leben zu mehr machen als nur zu einer Spanne zwischen Geburt und Tod. Es sind die Gefühle, die alles sind, was man hat, um die Leere zu füllen. Komm, Jakob, komm, komm her zu mir …«
    Die Wagentür wurde aufgerissen und Gulf blickte in die grabestiefe Mündung einer Maschinenpistole, auf eine schmutzige, grobe Hose, von einem breiten Gürtel gehalten, einen kunstvollen Runendolch und ein braunes, an der Seite zerrissenes Hemd. Dann sah er höher und in ein junges, bartloses, rußgeschwärztes Gesicht mit blauen Augen und braunen Haaren. Der Werwolf packte ihn und zerrte ihn aus dem Jeep, ohne Rücksicht auf seine Schußwunde zu nehmen. Er stöhnte vor Schmerz und hörte gepreßte deutsche Worte, Befehle auf Nazi-Art, hart und endgültig wie Todesurteile. Die Werwölfe stießen ihn über die Straße, an einem Mannschaftswagen vorbei, aus dem ihm der Gestank des Todes entgegenschlug, Blut und Erbrochenes und offene Innereien. Eine Handgranate war auf der Ladefläche explodiert und hatte die Soldaten zu einem unentwirrbaren Leichenknäuel verschnürt.
    Gulf stolperte und wäre gestürzt, hätte ihn einer der Werwölfe nicht festgehalten, ein Junge noch, kaum zwanzig, blond und arisch, wie aus einem Zuchtkatalog des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS. Ein Amulett aus durchscheinendem Achat hing an einer Kette um seinen Hals; ein mumifizierter Spinnenleib und ein gefalteter Zettel schimmerten hindurch.
    Zweige peitschten ihm ins Gesicht, als sie ihn durch das Unterholz trieben. Das Buschwerk war feucht und verfilzt, und je tiefer sie in den Wald vordrangen, desto unwegsamer wurde er. Die Sonne stieg langsam höher, aber unter dem Blätterdach wurde es kühler und dunkler. Der Schmerz war in seinen Arm zurückgekehrt, der andere Arm lag im eisenharten Griff eines Werwolfs.
    Aufgelauert, dachte Gulf. Sie haben uns aufgelauert. Eine Falle, um mich zu entführen. Sie müssen gewußt haben, daß ich mit dem Konvoi auf dem Weg nach Köln war, nach Köln, zu den Stimmen … Sie wissen von den Stimmen, Gott, dieses Nazi-Pack weiß Bescheid …!
    Ihm wurde kalt, so kalt wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Beine gaben unter ihm nach, und er fiel und riß fast den Werwolf mit sich. Der Guerillero fluchte und zog ihn wieder hoch. Ein anderer Werwolf kam hinzu, und zusammen schleiften sie ihn zu einem großen Moospolster am Fuß einer mächtigen Eiche. Die Baumkrone war dicht wie das verfilzte Haar eines alten Landstreichers und bot ihnen Schutz vor der Entdeckung aus der Luft. Die Werwölfe ließen ihn los. Erschöpft sank er ins feuchte Moos. Der Schock wich, während der Schmerz wieder zunahm, als hätte sich seine linke Schulter in eine einzige Wunde verwandelt. Keuchend streifte er die Uniformjacke ab. Der Streifschuß hatte eine fingerlange Scharte über sein Schulterblatt gezogen.
    In der Ferne grollten Explosionen.
    Die Kämpfe gingen weiter, aber das war ohne Belang für ihn. Er war in der Hand des Feindes. Er hielt sich den schmerzenden Arm und sah sich um.
    Ein Dutzend Werwölfe hatte sich unter der riesigen Eiche versammelt; alles Männer, keine Frauen. Natürlich, dachte er, in der Welt der Nazis haben die Geschlechter ihren festen Platz, und der Platz der Frauen ist am Herd, im Haus und im Kindsbett, um Führer, Volk und Vaterland neue Soldaten zu gebären. Die Werwölfe trugen Maschinenpistolen und Schnellfeuergewehre aus den Waffenschmieden des Krupp-Konzerns in Buenos Aires. Und an allen Hälsen hingen Ketten und Amulette: Haifischzähne und blaugrüne Malachitkugeln, Gamshörndl, Hirschgrandeln und Kümmererhörner, Bocksbart und Wolfszahn, Hirschkäferköpfe und in Silber gefaßte, mumifizierte Maulwurfspfoten, Benedictuspfennige und natürlich das Hakenkreuz und das Zeichen des Totenkopfes … Schutzamulette, Fraisketten gegen