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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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…«
    Dämmrig war es, zwielichtig und kühl, angenehm mild nach dem warmen Sonnenschein. Gulf war allein, allein mit Elizabeth, im morschen Gewölbe des Kölner Doms, im Moder des hohen Kirchenschiffs. Tageslicht fiel durch die leeren Fensterhöhlen und die offenen Wunden der Turmstümpfe, aber es war nicht hell genug, die Schatten auszuleuchten. Der Boden war von Moos und kümmerlichem Unkraut, hereingewehtem Laub und verrottendem Unrat bedeckt. An den schwarzen, verwitterten Mauern rankte sich Efeu empor, und Kletterrosen äugten mit weißen und roten Blüten durch die Portale, die Fensterhöhlen und die Risse im Gemäuer.
    Hoch über ihm, in den Schatten versteckt, hingen Fledermäuse an der Decke. Spinnweben spannten sich in düsteren Winkeln, Fliegen summten, Mäuse raschelten. Irgendwo pfiff mürrisch ein Käuzchen.
    Der Kölner Dom war verfallen, von den Bomben des Krieges verstümmelt und von Wind und Wetter gegerbt, doch nicht besiegt. Alles andere lag in Schutt, war überwuchert und baumgekrönt, doch der Dom reckte sich noch immer majestätisch in den Himmel.
    Gulf verstand jetzt, warum die Stimmen hier in Köln und nicht über dem großen Bombenkrater von Berlin erklangen. Im Dom war die Zeit von anderer Qualität als draußen in der Welt; im Dom konservierte sie, statt zu verderben, drehte sich, statt zu verstreichen …
    Ebensowenig wie der Tod absolut war, ebensowenig war die Zeit eine Konstante.
    »Hörst du mich, Jakob?« rief Elizabeth. »Sag, spürst du mich?«
    »Ja«, sagte Gulf, und seine Stimme hallte hohl im weiten Kirchenschiff, verloren wie die anderen Stimmen, die jetzt aus den Schatten drangen. Ganz und gar verrückte Stimmen, denen einst die ganze Welt zugehört hatte, voller Furcht und Grausen, Abscheu und Zorn.
    Sie waren wieder erwacht, gaben keine Ruhe.
    »Die Armee«, sagte die eine Stimme, die barsche, bis ins Mark kranke, »die Armee, die wir herangebildet haben, wächst von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde schneller. Und ich habe die stolze Hoffnung, daß einmal die Stunde kommt, daß diese wilden Scharen zu Bataillonen, die Bataillone zu Regimentern, die Regimenter zu Divisionen werden, daß die alte Kokarde aus dem Schmutz herausgeholt wird, daß die alten Fahnen wieder voranflattern, daß dann die Versöhnung kommt beim ewigen letzten Gottesgericht, zu dem anzutreten wir willens sind … Ihr habt einst die Stimme eines Mannes vernommen, und sie schlug an eure Herzen, sie hat euch erweckt, und ihr seid dieser Stimme gefolgt. Nicht jeder von euch sieht mich, und nicht jeden von euch sehe ich. Aber ich fühle euch, und ihr fühlt mich! So kommt aus euren kleinen Dörfern, kommt aus euren Marktflecken, vom Pflug hinweg in diese Stadt. Und wappnet euch! Wir müssen auf den härtesten Kampf gefaßt sein, den ein Volk je zu bestehen gehabt hat. Es wird meine Pflicht sein, diesen Krieg ohne Rücksicht auf Verluste zu führen. Die Blutopfer werden ungeheuerlich sein. Ich fürchte keine Zerstörungen. Städte werden in Trümmer zerfallen; edle Bauwerke werden für immer verschwinden. Aber ich fürchte dies nicht …«
    Und eine andere Stimme fiel ein, zänkisch und fett aus fauliger Leichenkälte: »Ich habe erst angefangen zu säubern, es ist noch längst nicht fertig. Die Bösen, die etwas auf dem Kerbholz haben, sind gefällige Leute, hellhörig für Drohungen, denn sie wissen, wie man es macht, und für Beute. Man kann ihnen etwas bieten, weil sie nehmen. Weil sie keine Bedenken haben. Man kann sie hängen, wenn sie aus der Reihe tanzen. Deshalb: Laßt abgefeimte Bösewichter um mich sein …«
    Und eine dritte gesellte sich schrill dazu, maßlos geifernd aus dem Nichts: »Laßt euch sagen, wie wir siegen. Eiskalt dem Gegner auf den Pelz rücken, ihn abtasten, auskundschaften, wo seine verwundbare Stelle ist, überlegsam und berechnend den Speer schärfen, ihn wohlgezielt in die lecke Blöße des Feindes hineinjagen … das ist jenes Rachegefühl, das kalt genossen wird …«
    Und eine vierte rief: »Das, was in den anderen Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Aber wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muß; das ist klar. Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung annehmen …«
    Die Stimmen keiften und brabbelten, tanzten im

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