Stimmen der Nacht
nicht. Aber der Präsident will es nicht glauben. Vor einigen Stunden hat er Washington verlassen. Er ist nach Dallas geflogen.«
»Nach Dallas?« sagte Gulf, und er wußte, warum. Tief im Herzen wußte er es.
»Nach Dallas«, bestätigte der General. »Sein Bruder spricht dort in den Straßen. John F. Kennedy spricht in Dallas, so wie Morgenthau im Weißen Haus spricht, von den Dingen, die gewesen sind, von den Jahren, die vergangen sind …«
»Es breitet sich aus«, flüsterte Gulf. »Es breitet sich tatsächlich aus!«
»Ja, es breitet sich aus. Die Botschafter des Andenpaktes sind im Weißen Haus vorstellig geworden. Sie verlangen, daß wir eine latinodeutsche Delegation ins Reich einreisen lassen. Sie wissen von den Stimmen in Köln. Sie brauchen nur noch einen letzten Beweis. Aber in Montevideo, in Santiago und Buenos Aires tanzen die Menschen auf den Straßen. Sie weinen und lachen und liegen sich in den Armen, und sie rufen, Jakob, sie rufen so laut, daß die Häuser erzittern: Sieg Heil! Sieg Heil! … «
Der Hubschrauber folgte dem Lauf des Rheins; über die Terrassen der Weinberge flog er dahin, über das schachbrettartige Muster der Äcker, Wiesen, Weiden und Wälder, über verstreute Dörfer und einsame Höfe, und dort, wo die Sieg in den Rhein mündete, breiteten sich wie brauner Schorf im Grün der Landschaft die Ruinen Bonns aus. Sie waren überwuchert, doch aus der Luft konnte man die Umrisse der verfallenen Gemäuer, der Häuserreste und Kirchturmstümpfe deutlich erkennen.
Als Gulf den Kopf hob, sah er in der Ferne einen Storchenschwarm unter den Wolken seine Bahn ziehen, wie Schattenrisse im Licht der Vormittagssonne. Störche … Er hatte seit Jahren keine Störche mehr gesehen. Und mit den Störchen teilten sich andere Vögel den Luftraum: Singdrosseln, Amseln, Habichte und Sperber, Turmfalken und Graureiher, Krähen und Mäusebussarde, Buntspechte und Wiedehopfe, Kraniche und Schwalben. Tausende und aber Tausende Vögel, in dichten Trauben, gewaltigen Schwärmen am blauen Firmament, über dem grünen Land, dem glitzernden Strom.
Gulf sah wieder den General an.
»Und jetzt?« fragte er heiser. »Was soll jetzt geschehen? Hat es noch Sinn, daß ich nach Köln fliege? Ist meine Mission nicht schon gescheitert, bevor ich überhaupt …?«
»Ich habe Befehl, Sie nach Köln zu bringen«, unterbrach der General, »und ich bringe Sie nach Köln. Alles andere liegt bei Ihnen. Sie haben nur noch wenig Zeit. Der Präsident wird dem Druck Deutsch-Amerikas früher oder später nachgeben müssen. Selbst wenn er den Latinodeutschen die Einreise ins Reich verweigert – sie werden trotzdem kommen. Und wenn sie dafür die ganze Erde in Brand stecken müssen.«
Am Horizont erschienen dunkle Punkte; fünf, sechs weitere Kampfhubschrauber der Alliierten Militärkommandantur. Begleitschutz für den Fall eines Angriffs der Werwölfe. Köln lag zum Greifen nah, ein Meer aus Grau und Grün zu beiden Seiten des Rheins, zerbröselter Ziegelstein und geborstenes Mauerwerk, faulendes Holz, rostendes Metall. Und inmitten all dieser Trümmer die Ruine des Doms.
»Es ist sinnlos«, murmelte Gulf. »Es ist von Anfang an sinnlos gewesen. Ich habe keinen Einfluß auf die Toten. Nicht einmal Elizabeth hört mich. Sie spricht zu mir, das ist alles.«
»Sie waren der erste, Jakob«, erinnerte der General. »Mit Ihnen hat alles begonnen. Und Sie müssen es versuchen. Sie haben keine andere Wahl. Ich setze Sie in Köln ab. Ich habe meine Befehle, und ich habe meine Befehle immer ausgeführt.«
Aber was, fragte sich Gulf, was unterscheidet dich dann von den Deutschen, General? Was?
Doch er behielt seine Gedanken für sich, und da war auch schon Köln, das ungeheuerliche Trümmerfeld, in dem kein Mensch mehr lebte, in dem sich nur die Stimmen der Toten regten und die Nacht mit ihrem bösen Geraune erfüllten.
6
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»Glaube mir«,
sagte
Elizabeth,
»glaube mir,
ich habe es
nicht gewußt.
Ich habe nicht gewußt, was es bedeutet, tot zu sein. Ich habe nicht gewußt, was es heißt, zu sterben und dennoch zu leben, und ich habe nicht gewußt, daß die Liebe stark genug sein kann, um den Abgrund des Grabes zu überwinden. Ich liebe dich, Jakob, und ich spüre dich, und manchmal sehe ich dein Gesicht. Kein Glück ist in deinem Gesicht, keine Freude, keine Liebe. Du bist noch immer kalt, dein Blut ist Eis in deinen Adern, und dein Herzschlag sagt: Ich will dich nicht, brauch dich nicht mehr und fürchte deine Wiederkehr
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