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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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schlecht aus«, bemerkte der General, als sich der Hubschrauber in die Luft hob.
    Gulf sagte nichts. Alles war so fern. Selbst der General schien nicht mehr zu sein als eine halbverblaßte Erinnerung.
    »Der arme Splitz«, fügte der General hinzu. »Er war ein tüchtiger Mann. Wie so viele andere, die in den letzten Jahren gestorben sind. Es wird Zeit, daß uns der Präsident freie Hand gibt, um diese Werwolf-Pest mit Stumpf und Stiel auszurotten.«
    Und das Morden im Wald? fragte sich Gulf. Das Dorf, das vom Erdboden getilgt wurde? Dieser Haß … Dieser tödliche Haß auf beiden Seiten …
    »Aber es wird ohnehin nicht mehr lange dauern«, erklärte der General. »Hier, Jakob, hören Sie! Hören Sie gut zu!«
    Er öffnete mit bebender Hand einen schwarzen Aktenkoffer. Im Koffer lag ein Cassettenrecorder. Mehr nicht. Der General schaltete ihn ein und sah Gulf erwartungsvoll an, und dann …
    »Ich habe London gesehen«, sagte die vertraute Stimme, diese alte Stimme aus den Tagen des großen Krieges. »Überall in London trifft man auf die Verwüstungen durch die V-1. London ist entsetzlich zerstört. Diese zerbombte Stadt mit ihren mutigen Einwohnern … Wir werden keinen Frieden auf Erden haben. Männer, Frauen und Kinder werden nicht in Sicherheit leben können, solange Aggressoren wie Deutschland und Japan in der Lage sind, ihre Nachbarn zu überfallen. Es genügt nicht, Deutschland zu entwaffnen und dann zu hoffen, sie werden schon lernen, sich als anständiges Volk zu benehmen. Hoffen genügt nicht. Wir müssen handeln. Wir müssen ihnen ein für allemal jede Möglichkeit rauben, wieder Krieg zu führen. Pioniere sollen in jedes Stahlwerk, in jede Zeche, in jede chemische Fabrik, in jede Raffinerie gehen, Dynamit legen, die Hydranten öffnen, alles unter Wasser setzen und sprengen. Das ist das Mindeste. Wenn im Ruhrgebiet die Maschinen demontiert, die Bergwerke überflutet, gesprengt, zerstört werden, dann können sie keine Kriege mehr führen. Sobald wir nachgeben und dieses Gebiet oder jene Bevölkerung weiterarbeiten lassen, werden die Deutschen das gleiche machen wie unsere Leute in Pennsylvania. Sie werden illegal Kohle fördern. Irgendeiner wird ein Bergwerk im Keller haben. Diese Burschen sind ja so schlau und solche Teufel. Bevor man sich’s versieht, haben sie wieder ein Heer, das marschiert. Ich weiche keinen Zoll zurück. Die Lösung scheint schrecklich, unmenschlich, grausam zu sein. Wir haben den Krieg nicht gewollt. Wir haben nicht Millionen Menschen in die Gaskammern gejagt. Wir haben all das nicht getan. Sie haben es so gewollt. Ich denke an die Zukunft meiner Kinder und Enkel und will nicht, daß diese Bestien wieder Krieg führen. Ich werde nicht nachgeben …«
    »Großer Gott!« keuchte Gulf. »Das ist Morgenthau! Das ist Henry Morgenthaus Stimme. Aber … sie klingt so neu, nicht wie die Aufnahmen aus den Archiven …!«
    Er starrte den General an, und der General nickte.
    »Er spricht, Jakob. Im Weißen Haus, im Oval Office. Er spricht seit gestern morgen. Wir haben uns die Aufnahmen via Satellit überspielen lassen. Morgenthau spricht, obwohl er tot ist, und er hat Deutschland nicht vergessen. All seine Worte kreisen um Deutschland und um die Deutschen und um das, was sie der Welt angetan haben. Schaurige Dinge, für die es keine Strafe geben kann, schreckliche Grausamkeiten, die sich niemals wiederholen dürfen.
    Sie haben selbst erlebt, wie erbarmungslos diese Bestien sind. Morgenthau wollte sie zähmen, wie man wilde Tiere zähmt. Deshalb dieser Plan, das Reich zu zerschlagen, ihre industrielle Basis zu zerstören, sie in Viehzüchter und Bauern zu verwandeln. Aber es hat nicht genügt. Es hat einfach nicht genügt. Nazis lassen sich nicht zähmen. Sie sind schlimmer als wilde Tiere. Um von ihnen befreit zu werden, muß man sie erschießen. Alle, ohne Ausnahme.«
    Gulf dachte wieder an das brennende Dorf und an die tote Frau im Wasser, so rot vom Blut, so schwarz vom Rauch, und sagte nichts. Der General schaltete den Recorder aus und klappte den Aktenkoffer zu. Schweißperlen tropften unter dem Bund seiner Uniformmütze hervor.
    »Morgenthau spricht«, wiederholte er, »aber er antwortet nicht. Er antwortet auf keine Fragen. Warum nicht? Hört er uns nicht? Und Elizabeth? Hat Elizabeth je auf Ihre Fragen geantwortet?«
    »Nein«, schüttelte Gulf den Kopf. »Niemals.«
    »Das dachte ich mir«, sagte der General. »Die Verbindung ist nur einseitig. Wir hören sie, doch sie hören uns

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