Stimmen der Nacht

gerötet und seine Augen flackerten. Hastig winkte er einen Jeep heran, der etwas abseits mit laufendem Motor wartete.
    »Sie haben Glück gehabt«, fügte er dann hinzu, gelassener jetzt, da er sah, wie Gulf steifbeinig in den Jeep kletterte und bald fort sein würde, zusammen mit dem Gespenst, das aus dem Nirgendwo zu ihm sprach. »Wir hatten diese Nazi-Bande schon lange im Visier; das Werwolf-Kommando Heinrich Himmler von der Neuen Waffen-SS. Vorgestern haben wir einen latinodeutschen Kurier abgefangen und ihn zum Reden gebracht. Zu spät, um den Überfall auf den Konvoi zu verhindern, aber gerade noch rechtzeitig, um Ihr Leben zu retten.«
    Gulf sank auf das harte Polster des Rücksitzes. »Mein Leben? Man hat mir nichts getan. Man hat nicht einmal mit mir gesprochen.«
    Der Oberst lachte grimmig. »Die ODESSA hat Ihre Hinrichtung angeordnet. Der Kurier war mit dem Exekutionsbefehl auf dem Weg zu den Werwölfen. Bormann weiß, was in Köln geschehen ist, und offenbar befürchtet er, daß Sie eine Möglichkeit finden, um …«
    Er sprach nicht weiter, aber Gulf wußte, was er meinte.
    Der Jeep fuhr los, und der Oberst, die anderen Offiziere, die Soldaten und Schützenpanzer fielen hinter ihm zurück. Zwei weitere Jeeps folgten. Die Fahrt ging holpernd über den morastigen Weg, der sich kurvenreich durch das grüne Halbdunkel des Waldes schlängelte.
    Jetzt ist es gewiß, dachte Gulf, die ODESSA ist über die Stimmen in Köln informiert.
    Flüchtig berührte er seine Schulter. Sie schmerzte nicht; die Kräutersalben der toten Hexe schienen besser zu helfen als alles, was Dow Chemical oder die IG Farben zu bieten hatten.
    Der Fahrer und der Soldat auf dem Beifahrersitz ignorierten ihn fast zwanghaft, mieden jeden Blickkontakt. Und als Elizabeth wieder sprach, sah Gulf, wie sich ihre Nackenhärchen aufrichteten, sich sträubten wie das Fell einer verängstigten Katze.
    »Es ist seltsam«, sagte Elizabeth, »es ist so seltsam, daß meine Worte nicht nur meine Worte sind und daß andere Worte den Weg zu mir finden, zu mir in die Leere, wo nur ich sein sollte, nur ich und sonst nichts. Es ist seltsam, daß die Mauern bröckeln und die Grenzen verschwinden und sich dennoch nichts verändert, alles beim alten bleibt. Ich sehe dich, Jakob. Manchmal sehe ich dich, und ich sehe die Angst in deinem Gesicht. Fürchtest du dich vor dem Sterben, vor dem Tod, der dich erwartet? Wußtest du, daß der Tod so viele Namen hat? Daß jedes Sterben einzigartig ist, daß jeder dem Tod auf eigene Weise begegnet und daß die Art, wie man stirbt, so wichtig ist wie das Leben, das man führt?«
    Gulf preßte die Lippen zusammen.
    Aber noch ist es nicht soweit, sagte er sich grimmig. Noch lebe ich. Ich komme nicht zu dir, Elizabeth. Ich bleibe hier. Hier bei mir.
    Und noch während er dies dachte, durchfuhr ihn ein anderer, entsetzlicher Gedanke: Was ist, wenn Elizabeth sich irrt? Wenn nicht ich zu ihr gehe, sondern sie zu mir kommt? Wenn die Stimmen der Toten nur der erste Schritt auf einem langen Weg sind, an dessen Ende ihre Fleischwerdung steht? Werden bald überall, in allen Dörfern und Städten, in den Wäldern und auf den Wiesen, auf den Bergesgipfeln und in den Tälern, sogar über den Meeren die Stimmen erklingen? Die Stimmen unserer Väter und der Väter unserer Väter, die Stimmen unserer Mütter und Großmütter und Urgroßmütter, all unserer Ahnen bis zurück zu jenen vergessenen Zeitaltern, in denen der nackte Affe den gekrümmten Rücken streckte und, wie aus langem Schlaf erwacht, die Welt mit neuen Augen sah?
    Die Fahrt endete an einer Lichtung, auf der wie ein dickbäuchiges, träges Insekt ein Hubschrauber wartete. Gulf stieg aus, ging langsam über die Lichtung und kletterte in den Helikopter. Kaum war die Luke geschlossen, begannen sich dröhnend die Rotorblätter zu drehen.
    Im Kopter saß der General.
    Er war ein dünner Mann mit kahlem Kopf und Hakennase. Eine Sonnenbrille verbarg seine Augen, von denen eins zerschossen war wie seine rechte Hand, Souvenirs aus Heidelberg, wo der Werwolf-Orden im Napalmfrühling 1975 seine schwerste Niederlage erlitten hatte. Der General trug einen einfachen Kampfanzug, keine Orden, nicht einmal Rangabzeichen, genau wie damals bei ihrer ersten Begegnung im Weißen Haus, mit dem Präsidenten und den Vertretern des Nationalen Sicherheitsrats, die bei Lammbraten und Kroketten und süßem kalifornischen Wein über Elizabeth debattiert hatten und die Gespenster im alten Reich.
    »Sie sehen