Stimmen der Nacht
Leben.
Und Gulf begriff: Es gibt keine Lösung für dieses Problem. Es gibt keine Möglichkeit, zum Schweigen zurückzukehren, denn wie die Toten im Tode eingefroren sind in das Muster ihrer gelebten Leben, so ist die Welt selbst eingefroren. Dies ist die Brücke, von der Elizabeth gesprochen hat, dies ist der Quantensprung, die Aufhebung der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Der Tod hat zu lange schon nach einer Braut gesucht, um Deutschland nach der Vermählung doch noch freizugeben.
Wir werden es ertragen müssen, sagte er sich. Wir werden es ertragen müssen, weil uns keine andere Wahl bleibt, denn es gibt keinen Ausweg. Selbst der alte, der verzweifelte letzte Ausweg ist nun versperrt.
Wie Elizabeth gesagt hatte: Selbst die Flucht führte zum Ziel.
Müde wandte er sich ab, drehte dem wüsten Geschrei den Rücken zu, und ging langsam durch die Düsternis des Doms hinaus in die Nacht. Draußen war die Luft noch schwül von der feuchten Hitze des Tages, und in die Schwüle mischte sich Raunen und Wispern, vielstimmiges Flüstern.
Gulf blieb stehen.
Er hatte es erwartet, aber nicht so bald, nicht in dieser Zahl.
So viele Stimmen …! Die Stimmen von alten Männern und jungen Burschen, von Damen, Huren und unreifen Dingern. Helle Stimmen, rauhe Stimmen. Von allen Seiten drangen ihre Worte, aus allen Richtungen sprachen sie zu ihm, tausendfach gesagte Dinge, tausendfaches Klagen über das Leben, das so grausam war und mit dem Tod nicht endete, sondern mit dem Sterben erneut begann, sich immer wiederholte. In allen Ritzen der verrotteten Gemäuer, in jedem Spalt zwischen moosbedeckten Steinen, in den Wurzeln, im Geäst, in den Büschen und im Unterholz, von allen Seiten ohne Unterlaß schwatzten die Toten aus der Leere, in der sie waren, ohne zu sein, in der sie lebten und zugleich starben und niemals erlöst wurden.
Der Himmel über Köln war von einem tiefen, dunklen Rot, orange verfärbt am Horizont, und das Rot wurde bald zu Violett, schließlich zum Schwarz der Nacht. Sterne glitzerten hinter Wolkenfeldern. Mücken tanzten ihren Schlafreigen, und die Tiere der Dunkelheit erwachten, ohne zu ahnen, daß die Toten die Nacht bereits in Besitz genommen hatten.
Mit jeder Minute wuchs ihre Zahl, ihr lärmendes Klagen.
Gulf setzte sich vor dem Dom auf einen warmen, verwitterten Brocken aus dem Mauerwerk der geborstenen Türme und hörte den Verstorbenen zu, die nichts zu sagen hatten, was nicht längst schon gesagt worden war.
»Jakob«, flüsterte Elizabeth dicht an seinem Ohr, »geliebter Jakob«, flüsterte sie, »es ist so schön, bei dir zu sein, endlich vereint im Sternenschein. Jakob, mein Jakob, spürst du mich nicht? Öffne die Augen und schau mir ins Gesicht. Bitte, Jakob, ich bitte dich …«
So tat er es dann, mit Tränen in den Augen, geschnürter Brust, und der Nachtwind kühlte sein Gesicht. Er sah hinauf zum Mond, der bleich und kalt das Land beschien, den Dom, den Rhein, das Trümmermeer, und Bitterkeit erfüllte ihn.
»Nein, Jakob«, hörte er Elizabeth erschrocken wispern, »nicht, Jakob, sag es nicht, ich bitte dich, schweig und behalte es für dich … Doch selbst wenn du schweigst, höre ich dich, und du sagst zu dir: Wann wird sie endlich sterbenskrank und geht dahin ins Totenland? …«
Ja, dachte Gulf. Stillstand. Kein Vor, kein Zurück. Das ist alles, mehr ist es nicht.
Still saß er da, im kühlen Wind, im Sternenschein, und lauschte den Stimmen der Nacht.
7
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Er mußte
eingeschlafen
sein, und
irgendwann vor
Sonnen-
aufgang,
während die Toten noch immer durch die Nacht irrten und geschwätzig ihrem verlorenen Leben nachtrauerten, während sich drüben im Dom Hitler an seinen eigenen Worten berauschte und die Heil!- Rufe der anderen Gespenster in den Turmstümpfen brausten, als hätte sich die Zeit gedreht und sie zurück in die dreißiger Jahre versetzt, in die Massenhysterie der Nürnberger Reichsparteitage oder in die blinde Raserei der Kristallnacht … Da drehte sich für Gulf die Zeit tatsächlich. Sie sprang zurück, und es war plötzlich wieder April: Schneeapril, Ostküstenwinter, New Yorker Frost.
Und Gulf erinnerte sich.
Er erinnerte sich genau an alles, was an jenem verschneiten Apriltag vor vier Jahren geschehen war. Er sah sie noch deutlich vor sich: Goldberg und Elizabeth und die Klette natürlich, die Elektrische Klette, die erste, mit der alles begonnen hatte.
Im Lauf des strengen Winters war die Luft über New York zu Glas gefroren. Kälte klirrte
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