Stimmen der Nacht
wie Metall in den Straßen. Schneeberge in der Fifth Avenue, Schneegestöber über den Dächern von Greenwich, Schneedecken auf Manhattan und Brooklyn. Das Rauschen des Rheins wich dem Heulen des Aprilsturms, die überwucherten Ruinen von Köln, der Mond hinter den dunklen Wolken – alles verblaßte und wurde von den metallgrauen Zwillingstürmen des World Trade Centers überlagert. Graffiti aus Rauhreif überzogen die in den Himmel wachsenden Fassaden. An den breiten Glasfronten des Dachrestaurants waren Eisblumen kristallisiert. Es war April, und der Winter hauste wie ein fahles Gespenst in der Stadt. Selbst im vollklimatisierten Dachrestaurant spürte man den grimmigen Frost, und die Schlagzeile der New York Times neben Gulf auf dem Tisch war winterlich wie der Tag:
FALKLAND-KONFLIKT WEITET SICH AUS
»Man sollte sie atomisieren«, sagte Goldberg. Er sprach beiläufig; ebensogut hätte er sagen können: Man sollte mehr Frühsport treiben. »Man sollte sie alle atomisieren – Buenos Aires, Montevideo und dieses nachgemachte Berlin in Brasilien. Das ist die einzige Sprache, die die Nazis verstehen. Heute sind es die Falklands, morgen Puerto Rico, übermorgen Florida und nächste Woche das Weiße Haus. Wir alle wandern ins KZ auf Feuerland, und irgendein Vorgarten-Goebbels wird Abenteuer Live moderieren und über das grandiose Abenteuer der Ahnenforschung schwätzen. Halten Sie mich nicht für pessimistisch, Jakob, aber ich habe zuviel gesehen, um mir über diese Bande noch Illusionen zu machen. Irgendwann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als Deutsch-Amerika zurück in die Steinzeit zu bomben, damit die Welt endlich Ruhe hat. Und je früher das geschieht, desto besser für uns alle.«
Gulf rührte in seinem Kaffee und versuchte, sich an die Zahl der Zuckerwürfel zu erinnern, die er hineingetan hatte. »Ich glaube nicht, daß Kennedy sich einmischen wird. Dies ist nicht die erste Falkland-Krise, und es wird nicht die letzte sein. Wenn Sie mich fragen, die Latinodeutschen werden keinen Krieg mit den Briten riskieren; sie wollen London nur reizen. Jedesmal, wenn die britische Rheinarmee eine Werwolf-Gruppe aushebt, blockieren die Deutschen für ein paar Wochen die Falklands. Und sobald die Navy in den Südatlantik dampft, ziehen sie sich wieder zurück. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, nichts weiter.«
Er sah auf seine Uhr. Elizabeth mußte jede Minute eintreffen. Wenn ihr Taxi nicht im Schnee steckengeblieben war.
»Haben Sie die Nachrichten gehört?« fragte Goldberg. »Bormann soll tot sein. Heute Mittag wurde es gemeldet. Vielleicht ist das der Grund für die Ausweitung der Blockade. Der alte Reichsleiter ist tot und die Provinzfürsten kämpfen um seine Nachfolge. Gut möglich, daß der Gauleiter von Argentinien glaubt, mit der Rückeroberung der Falklands Punkte sammeln zu können – die Argentinier und ihre Malevinen! Eine großartige nationale Tat und eine Niederlage für die verhaßten Briten. Wenn es nach mir ginge, ich hätte schon vor Jahren den Rio de la Plata verminen lassen. Bomben auf Buenos Aires und Minen in den Rio de la Plata. Das wäre die richtige Antwort auf die Blockade. Und der passende Salut für den toten Bormann.«
»Seit Kriegsende ist Bormann schon zwanzigmal für tot erklärt worden«, erinnerte Gulf. »Aber er lebt. Menschen wie Bormann sterben nicht, Gabriel. Und wenn sie sterben, leben sie trotzdem weiter.« Er nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht; lauwarm und zu süß. »Wie alt ist Bormann jetzt? Achtzig? Neunzig?«
»Im Juni wird er siebenundachtzig. In ganz Deutsch-Amerika werden die Sektkorken knallen – und in den Folterkellern der ODESSA die Schüsse der Hinrichtungskommandos. Ein Geburtstag war für die Nazis schon immer ein guter Anlaß, ein paar lästige Gegner umzubringen. Aber vorher wird noch Führers Geburtstag gefeiert. Mit Fackelmärschen, Wagner-Konzerten und wehenden Blutfahnen. In der Totenburg vor den Toren Germanias legen die Gauleiter Kränze und Blumengebinde für den Unbekannten SS-Mann nieder, während Baumeister Speer in der Ruhmeshalle die Büste eines neuen Großen des deutschen Volkes enthüllt.«
Goldberg zwinkerte ihm zu.
»Wer wird es diesmal sein, Jakob? Was meinen Sie? Weinberg?«
»Kaum « Gulf lächelte schwach. »Obwohl es ein netter Gag für die Jubiläumsshow wäre. Aber Weinberg lebt, und die Deutschen ehren in ihrer Ruhmeshalle nur tote Volksgenossen. Weinberg müßte schon bei seinem nächsten Atmosphäresurf
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