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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Zwielicht wie dunkle Motten, wüteten im Kirchenschiff.
    »Die Slawen sollen für uns arbeiten. Soweit wir sie nicht brauchen, mögen sie sterben. Die slawische Fruchtbarkeit ist unerwünscht. Sie mögen Präservative benutzen oder abtreiben, je mehr desto besser. Bildung ist gefährlich. Die Religionen lassen wir ihnen als Ablenkungsmittel. An Verpflegung bekommen sie nur das Notwendige. Wir sind die Herren, wir kommen zuerst …«
    »Heute erwacht ein neuer Glaube: der Mythos des Blutes, der Glaube, mit dem Blute auch das göttliche Wesen des Menschen überhaupt zu verteidigen. Der mit hellstem Wissen verkörperte Glaube, daß das nordische Blut jenes Mysterium darstellt, welches die alten Sakramente ersetzt und überwunden hat …«
    »Ich erinnere mich an Prag, an das goldene Prag, und eines Tages waren dort große rote Plakate angeschlagen, auf denen zu lesen war, daß heute sieben Tschechen erschossen worden waren. Da sagte ich mir: wenn ich für je sieben erschossene Polen ein Plakat aushängen lassen wollte, dann würden die Wälder Polens nicht ausreichen, das Papier herzustellen für solche Plakate …«
    »Für uns Deutsche ist alles Religion. Was wir tun, das leisten wir nicht nur mit unseren Händen und Hirnen, sondern mit unseren Herzen und unserer Seele. Das ist uns oft zum tragischen Verhängnis geworden …«
    Hin und her ging das dreiste Prahlen und wahnwitzige Planen, das Schwadronieren über die Vernichtung von Menschenleben. Die Stimmen umwirbelten Gulf in einem unsichtbaren Reigen, einer tollen Jagd im Dämmerlicht, und es waren Hitler und Göring, Goebbels und Himmler, Heydrich, Rosenberg, von Schirach, die ihren Blocksbergstanz im Dome zu Köln aufführten. Monströs wie zu Lebzeiten, noch im Tode den tausend Jahren brauner Macht und Massenmord nachtrauernd.
    Ihre Stimmen waren alles, was von ihnen übriggeblieben war, aber sie waren schon zuviel, viel zuviel.
    »Seid still!« keuchte Gulf, während er dastand, die Fäuste geballt, den Kopf eingezogen, die Zähne fletschend wie ein in die Enge getriebenes Tier. »Seid still, seid endlich still, seid tot und schweigt, seid still für immer …!«
    Aber sie waren nicht still.
    Sie dachten nicht im Traum daran, ihr grausiges Treiben einzustellen.
    Der Nachmittag machte dem Abend Platz, und im Abendrot nahm ihre gespenstische Raserei noch zu, als ob die nahende Nacht ihre Kräfte stärkte und sie über sich selbst hinauswachsen ließ. Vor allem er tat sich hervor, der gescheiterte Postkartenmaler, der Führer aus dem Männerwohnheim in der Wiener Meldemannstraße, der seine letzte Heimstätte im Atompilz über Berlin gefunden hatte.
    »Das ist das Wunder«, flüsterte er im Moder des Doms. »Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück …«
    Mein Gott, mein Gott! dachte Gulf. Er zitterte an allen Gliedern, und er fragte sich, was Morgenthau jetzt wohl im Weißen Haus und was John F. Kennedy in den Straßen von Dallas trieb. Er fragte sich, wer als nächster die erzwungene Sprachlosigkeit des Grabes aufgeben und seine tote Stimme in der Welt der Lebenden erheben würde, und wie viele es sein mochten auf dem ganzen Erdball, und was die Zukunft bringen würde, falls es eine Zukunft gab …
    Er preßte die Hände auf die Ohren, um das Geschrei auszusperren, aber es gelang ihm nicht. Die Stimmen waren zu laut. Er mußte ihnen zuhören, ob er wollte oder nicht, wie er seit vier Jahren Elizabeth zuhören mußte, die ohne Unterlaß der unwiederbringlich verlorenen Zeit nachtrauerte.
    Das war es, was ihn am meisten schmerzte: Immer und immer wieder an die Vergangenheit erinnert zu werden, von ihr, die nichts anderes als die Vergangenheit besaß, weil es im Tode nur noch den Blick zurück gab. Er hörte die Stimmen, die sich wie Elizabeth an die Vergangenheit klammerten, und er erkannte die wahre Tragik des Grabes: Sich immer zu drehen, dachte er, sich immer zu wiederholen, immer im Gewesenen zu sein, Stillstand, kein Fortschritt, nicht einmal Rückkehr, sondern ewige Erstarrung, das ist der Tod. Das Echo des Lebens, der endlose Widerhall des Seins, der andauert, bis das Universum selbst in sich zusammenfällt, wieder zu Urmaterie wird, dann einen zeitlosen Moment lang verharrt und erneut explodiert, mit Splittern, die Galaxien sind, ganze Nebelhaufen. Vielleicht ist dies dann endlich der Neubeginn nach dem endgültigen Tod, der Platz macht für neues

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