Stimmen der Nacht
glücklich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Steigen Sie ein. Kommen Sie, steigen Sie ein.«
Er stieg schweigend ein und schlug die Tür zu. Die Limousine fuhr los. Er sagte noch immer nichts. Er sah starr aus dem Fenster, in die grüne Unendlichkeit des amazonischen Dschungels, als fürchtete er, vergiftet zu werden, wenn er Josef Mengele, den KZ-Arzt von Auschwitz, ein zweites Mal anblickte.
12
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»Es gibt
da noch
diese
ungesagten
Dinge,
Jakob«,
flüsterte ihm Elizabeth ins Ohr, »es gibt da diese nie erwähnten Dinge über den Tod und das Nichtsein im Nirgendwo. Ich habe dir vom Tod erzählt, und wie es ist, zu sterben, und wie es ist, tot zu sein, aber ich habe dir nichts von dieser Härte erzählt, die alle Erinnerungen zermahlt, und nichts von dieser Kälte, in der alle Gefühle erstarren. Es ist schrecklich hier, Jakob, in diesem Hier, das keine Orte kennt, in dieser Stille, die erfüllt ist vom Lärm fremder Stimmen. So viele Stimmen … Die Stimmen aller Menschen, die jemals gelebt haben, und es ist schrecklich, was sie sagen, aber alle sagen es, ausnahmslos alle … Sie sagen, daß die Welt der Lebenden endet, daß es bald nur noch den Tod geben wird, zehn oder zwanzig Milliarden Jahre Tod, bis dann das Universum in sich zusammenstürzt und sogar der Tod ein Ende hat. Und es stimmt, was sie sagen. Ich spüre es. Dies ist das Ende allen Lebens, der Beginn der langen finsteren Nacht. Aber hab keine Angst, Jakob, denn ich bin bei dir, um dir zu helfen, und ich werde tun, was getan werden muß, um dich zu retten, und nichts wird mich daran hindern, zu dir zu kommen. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben, immer und ewig …«
Josef Mengele schüttelte den Kopf und sah Gulf von der Seite an, mit einem Blick, wie er ihn vielleicht in Auschwitz auch jener Jüdin zugeworfen hatte, der schwangeren Jüdin und ihrem neugeborenen Kind, bevor er die Nabelschnur zerriß und das Kind gegen die Wand schmetterte …
»Und sie redet seit vier Jahren so?« fragte Mengele. Er sprach freundlich. Es schien ihn zu belustigen, wie es ihn in Auschwitz belustigt hatte, pfeifend durch seinen Revierblock zu schlendern und die Häftlinge zu selektieren, damit der Hunger der Gaskammern gestillt wurde. »Ein Wunder, daß es Sie nicht um den Verstand gebracht hat, Mr. Gulf.«
Gulf rückte von ihm ab, zog sich in den Winkel von Sitzbank und Tür zurück, scheute vor der Nähe dieses Mannes. Trotz der Klimaanlage schwitzte er. Doch es war nicht die Angst, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, sondern Abscheu. Was da neben ihm saß in menschlicher Gestalt, mit graumeliertem, sorgfältig frisiertem Haar, mit Augen, Nase und Lippen, war kein Mensch, konnte kein Mensch sein, war nie ein Mensch gewesen. Es war eine Maske, hinter der sich eine Kreatur verbarg, wie sie vielleicht der Weltraum ausgebrütet hatte, vor Äonen, in den dunklen Jahren vor der Geburt der Sterne. Ungeheuer der Vorzeit, die in ihrer Verderbnis den Untergang der schwarzen Domäne überdauert und sich in die Gegenwart hinübergerettet hatten. Wahnsinnigen Göttern gleich, zur Erde herabgestiegen und in Menschengestalt geschlüpft, damit niemand ihre entstellten Gesichter sah.
Gulf fiel etwas ein, das er vor Jahren gelesen und vor dem er sich gegruselt hatte, wie man sich vor einem Horrorfilm gruselt, doch in Mengeles Gegenwart veränderte sich die Erinnerung und enthüllte ihren wahren Schrecken.
»Sagen Sie«, fragte er, »damals, Ende Juli 1944, als Sie dem rassenbiologischen Hauptamt in Berlin den Kopf dieses zwölfjährigen Kindes geschickt haben … Haben Sie das Paket selbst gepackt? Ich meine eigenhändig, mit diesen Händen, die ich da sehe, und haben Sie mit diesen Fingern die Schnur geknotet und die Adresse auf das Packpapier geschrieben?«
Mengele hob seine Hände und betrachtete sie lange.
»Diese alten Geschichten«, lächelte er schließlich. »Immer diese alten Geschichten. Was fasziniert euch Amerikaner so daran? Gibt es bei euch zu Hause nicht genug Grausamkeiten, um euch diesen lüsternen Schauder über den Rücken zu jagen? Was ist mit der Bombe? Mit der ersten Atombombe, die ihr auf Berlin geworfen habt, obwohl der Krieg für uns längst verloren war, und was ist mit den Hunderttausenden, die im Atomblitz verbrannt sind? Sie sagen, ich hätte experimentiert, mit Menschen experimentiert? Aber war der Abwurf der ersten Atombombe nicht auch ein Experiment, ein Experiment in einem viel größeren Rahmen? Ich kenne diese
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