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Stimmen der Nacht

Stimmen der Nacht

Titel: Stimmen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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vage an das, was in Sao Paulo geschehen war. Sirenenlärm und Schüsse, Blut und Schmerzensschreie, schwarzuniformierte ODESSA-Männer, die sich mit seinen Bewachern erbitterte Kämpfe lieferten, die rasende Fahrt durch das dunkle Elendsviertel … Erst während der Fahrt, noch immer unter dem Einfluß der psychedelischen Verhördroge fiebrig phantasierend, hatte er erkannt, daß er sich nicht in der Gewalt der ODESSA befand, sondern der Falange.
    Seine Entführung – und damit die der Stimmen der toten Nazi-Führer – schien der Höhepunkt des jahrelangen Machtkampfes zwischen den faschistischen Latino-Milizen und der deutschen ODESSA gewesen zu sein. Aber Morellos Plan, mit Gulf als Faustpfand Einfluß auf Bormann und die Politik Deutsch-Amerikas zu nehmen, war gescheitert.
    Der Plan war verraten worden, die Büros der Falange brannten und die Todesschwadronen der ODESSA machten Jagd auf jeden Falangisten.
    Wie hatte Morello auch annehmen können, daß Bormann tatenlos zusehen würde, wie sich irgendein dahergelaufener Latino des Geistes von Adolf Hitler bemächtigte? Und Klaus Barbie, der machthungrige ODESSA-General, hatte nur auf eine Gelegenheit gewartet, die Falange zu zerschlagen.
    Morello kam zu ihnen zurück. Sein Gesicht war grau. »Der Wagen läßt sich nicht reparieren«, sagte er. »Der Vergaser. Präpariert. Sabotage. Wir sitzen in der Falle.«
    »Aber das ist unmöglich!« stieß Laureen hervor. »Das ist …«
    Gulf räusperte sich. »Warum lassen Sie mich nicht gehen? Die ODESSA will mich. Wenn Sie mich ausliefern, haben Sie vielleicht eine Chance, Ihr Leben zu retten.«
    »Es ist zu spät«, wehrte Morello ab. »Barbie wird uns so oder so töten.«
    Die beiden Männer am Mercedes schlossen die Motorhaube und holten zwei Schnellfeuergewehre aus dem Wagen. Sie wechselten ein paar Worte mit Morello, aber er schüttelte den Kopf, und nach kurzem Zögern wandten sich die Falangisten ab und trotteten davon.
    »Sie werden nicht weit kommen«, sagte Morello resigniert. »Die ODESSA hat die Transamazonica blockiert; deshalb sind keine Autos unterwegs. Die ODESSA wartet auf uns.«
    Gulf sah den beiden Männern nach. Sie beschleunigten ihre Schritte und näherten sich dem filzigen Dickicht am Straßenrand. Fast hatten sie es erreicht, als zwei Schüsse aus dem Unterholz peitschten. Die Falangisten brachen gleichzeitig zusammen. Stille kehrte ein. Der Dschungel lag grün und schweigend unter der Sonne. Und irgendwo in seinem Grün ODESSA-Männer.
    Scharfschützen, dachte Gulf. Er spürte ein Prickeln in seinem Nacken. Wir sind umstellt.
    »Sie werden uns töten«, sagte Laureen.
    »Ja«, nickte Morello fatalistisch.
    Von fern drang Motorenlärm. Gulf sah nach Osten. Ein schwarzer Punkt kroch über die Straße und wurde rasch größer. Eine gepanzerte Limousine. Morello und Laureen bewegten sich nicht. Im Unterholz raschelte es. Zweige brachen. Hier und dort schimmerte es schwarz aus dem Grün hervor, das Schwarz von ODESSA-Uniformen. Die Limousine hatte sie fast erreicht. Zwanzig Meter von ihnen entfernt hielt sie an. Die Scheiben waren getönt und verbargen die Insassen vor ihren Blicken.
    Eine Tür sprang auf.
    »Kommen Sie, Mr. Gulf«, rief eine Stimme mit deutschem Akzent aus dem Wagen.
    Gulf zögerte. Er sah von Morello zu Laureen.
    »Gehen Sie«, sagte Morello.
    »Nein!« fuhr Laureen dazwischen. »Er ist unser einziger Schutz. Solange er bei uns ist, werden sie nicht schießen. Wenn er geht, sind wir tot.«
    »Wir sind jetzt schon tot.« Morellos Gesicht blieb ausdruckslos. »Gehen Sie, Mr. Gulf.«
    Gulf ging. Mechanisch bewegten sich seine Beine und trugen ihn der Limousine entgegen. Die Sonne brannte heiß auf ihn nieder. Wieder dieses Rascheln im Dschungel, wieder das Peitschen zweier Schüsse. Er blieb stehen und sah sich um. Blut auf der Straße, Blut in Laureens weißem Haar, Blut in Morellos altem Gesicht.
    Sie waren tot, und es gab keinen Tod.
    Gulf fragte sich, wann sie ihre Stimmen erheben würden. Sobald das Sterben beendet, der letzte Lebensfunke erloschen war? Nach Monaten, wie Elizabeth, oder erst nach Jahrzehnten, wie Hitler und die anderen Gespenster aus dem Dom?
    »Kommen Sie, Mr. Gulf«, rief die Stimme aus der Limousine. »Wir haben nicht viel Zeit. Der Reichsleiter erwartet Sie.«
    Der Reichsleiter, dachte Gulf. Martin Bormann.
    Er trat an die offene Tür. Im Fond war es dämmrig. Kühle Luft schlug ihm entgegen.
    »Heil Hitler, Mr. Gulf«, sagte der Mann im Fond. »Ich bin

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