Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
ihren Kunden auch nie in die Augen.«
»Mrs Kennedy hat das Asperger-Syndrom, und darüber spricht sie auch ganz offen. Oder wollen Sie damit sagen, dass meine Mathelehrerin irgendeine Form von Autismus haben könnte?«
»Keineswegs. Ich will nur darauf hinweisen, dass es alle möglichen Gründe für das Verhalten eines Menschen gebenkann. In manchen Kulturen gilt direkter Augenkontakt sogar als unverschämt.«
Maggie schüttelte den Kopf und spürte, wie die Federn ihrer Ohrringe ihr über die Wangen strichen. »Das gilt meist nur für den Kontakt zwischen Männern und Frauen.«
Dr. Riley lächelte. »Du bist ein kluges Mädchen, Maggie. Aber du weißt nichts über deine Lehrerin, deshalb kannst du auch ihre Motive nicht verstehen. Mrs Murdock ist noch neu hier, und sie ist vermutlich genauso nervös wie ihre Schüler. Du solltest versuchen, nett zu ihr zu sein.«
Da war sie wieder, dachte Maggie, die soziale Last, die allen stillen Mädchen aufgebürdet wurde –
Nettigkeit.
Die sportlichen Jungs mahnte in der Schule nie jemand, doch nett zu sein. Keiner versuchte sie zu drängen, sich mit neuen nervösen Lehrern anzufreunden oder beim Lunch auch die Außenseiter an ihrem Tisch sitzen zu lassen. Vielleicht rieten ihre Mütter ihnen hin und wieder einmal, etwas mehr Mitgefühl zu zeigen, doch immer in dem Bewusstsein, dass die Rücksichtnahme auf anderer Leute Gefühle die ureigenste Aufgabe
ihres
Geschlechts war, vor allem dann, wenn sie selbst zum stillen Typ gehörten – denn nicht mal von allen Frauen wurde ja Freundlichkeit erwartet. In den Reality-Shows im Fernsehen belohnten Produzenten die Boshaftigkeit von Frauen mit Tausenden von Dollars, und in der Schule waren die beliebten Mädchen viel zu sehr damit beschäftigt, in allen spiegelnden Oberflächen ihre Frisur zu kontrollieren, als dass sie Zeit gehabt hätten, sich um die Gefühle anderer Leute zu kümmern. Und niemand schien es von ihnen zu erwarten. Doch Maggie konnte sich an zahllose Gelegenheiten in ihrem Leben erinnern, als Erwachsene sie aufgefordert hatten, nett zu sein zu anderen Kindern, lieb zu den Kleinen und höflich zu den Alten. War da irgendwas in ihrem Gesicht, das Freundlichkeit erwarten ließ? Stand es vielleicht im Muster ihrer Sommersprossen geschrieben?
Neunzig Prozent der Zeit war sie gewillt, ihnen allen denGefallen zu tun, doch zuletzt hatten die restlichen zehn Prozent übernommen und sie hatte die Augen verdreht angesichts der Vorschriften für weibliche Selbstlosigkeit. Es waren vermutlich die Teenagerhormone, die sie so kleinlich werden ließen. Doch was immer auch der Grund dafür war, sie fand, dass es jetzt mal die Aufgabe eines anderen war, nett zu der neuen Lehrerin zu sein. Vielleicht konnte ja einer der Jungs mit einem Faible für Euklid die Mathelehrerin dazu verleiten, ihm in die Augen zu blicken.
»Hm«, sagte Maggie. »Mal sehen.«
3
»Was meinst du, warum hast du wieder diese Träume?«
Maggies Vater stellte immer Fragen auf dem Heimweg von der Therapie. Als sie fünf war, war er bei den Sitzungen dabei gewesen, aber im benachbarten Zimmer, dessen Tür einen Spalt offen blieb, sodass er zuhören konnte, ohne gesehen zu werden. Doch jetzt war sie zu alt, um Spione zu dulden, und er musste versuchen, die Informationen aus ihr herauszulocken, genau wie Dr. Riley. Männer wollten dauernd irgendetwas aus einem herauslocken.
»Keine Ahnung.« Sie drehte sich weg von ihm, bis sie mit der Nase beinah an die Scheibe des Beifahrerfensters stieß. Sie fuhren gerade durch das nur vier Häuserblocks umfassende Stadtzentrum von Jackson, Virginia, wo die Straßen von fast zweihundert Jahre alten Gebäuden aus Backstein gesäumt waren. Dort war ein Laden mit Schnickschnack aller Art, der die Vorübereilenden mit nach Kiefernnadeln riechenden Kerzen anlocken wollte, und dort ein Küchenshop, der in seinem Schaufenster drei verschiedene, zur Pyramide aufgestapelte scharfe Grillsoßen anpries: »Scorned Woman«, »Sudden Death« und – Maggies Lieblingssorte – »Ass in the Tub«. Dann kam die Buchhandlung, wo wie immer die zwei grauen Perserkatzen zusammengerollt in der Auslage vor sich hin dösten, das Fell an die Scheibe gepresst, gefolgt vom Gerichtsgebäude mit den von Spatzen belagerten Kanonen und dem Veteranendenkmal davor, das vom Kleingärtnerverein jedes Jahr wieder patriotisch mit roten Geranien, weißen Stiefmütterchen und blauvioletten Lupinen geschmückt wurde.
Als sie an einer roten
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