Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
in Maggie sehnte sich danach, so zu sein wie ihre Mom, so auszusehen wie sie, so zu schreiben wie sie, ein Echo ihrer Stimme aufs Papier zu bringen. Aber meistens ertrug sie es gar nicht, sich ihre Mutter vorzustellen. Außerdem war der Gedanke grässlich, alberne Artikel über lahme Schulereignisse zu schreiben: Footballergebnisse, Cheerleader-Proben, Abschlussbälle.
»Du könntest irgendwann Chefredakteurin werden, wenn du dich hocharbeitest.« Das brachte Maggie kurz ins Grübeln. Die Vorstellung gefiel ihr, jede Woche ein Forum zu haben, in dem sie gegen das Schulessen, zu schwere Klausuren und den Sexualkundeunterricht wettern konnte, in dem immer bloß Enthaltsamkeit gepredigt wurde und nie von Verhütung die Rede war. In den Leitartikeln könnte sie ihrem Zehn-Prozent-Anteil Ausdruck verleihen und ihre Unzufriedenheit in etwas Produktives für ihren Lebenslauf verwandeln. Und wer weiß, wenn es ihr gelingen würde,die anderen klugen, stillen Mädchen der Schule um sich zu scharen, könnten sie zusammen vielleicht sogar eine radikalfeministische Gruppe bilden.
Doch Maggie war auch klar, wie viel Arbeit der Job als Chefredakteurin mit sich bringen würde – organisatorische Pflichten, Aufgabenverteilung an die Mitarbeiter und – am schlimmsten von allem – das Korrekturlesen der Artikel der anderen Schreiber. Maggie hatte keine Lust, die kindischen Texte schlampiger Mitschüler zu korrigieren. Ihre eigenen Artikel und die Texte einiger besonderer Freunde jederzeit; aber sie wollte nicht dafür zuständig sein, dass auch alle anderen gut wegkamen. Eher würde sie deren Artikel noch in ihrer grotesken Ungeheuerlichkeit veröffentlichen: kindliche Satzkonstruktionen aus Subjekt, Prädikat und Objekt, falsch gesetzte Kommata und fehlende Apostrophe. Warum wollten die faulsten Schüler eigentlich immer, dass irgendwer alles für sie in Ordnung brachte? Ihr Satz-Chaos. Ihr Cafeteria-Chaos. Das ganze verdammte Chaos. Solche Typen hinterließen immer Chaos.
Maggie nahm die Stirn von der Seitenscheibe, lehnte sich in den Autositz zurück und schloss die Augen. Ihre Gedanken waren wieder da angelangt, wo sie begonnen hatten, bei dem Hauptproblem, das sie in den letzten paar Wochen geplagt hatte – dem wahren Grund dafür, vermutete sie, warum ihre Träume wiedergekehrt waren, den sie ihrem Dad aber nicht erzählen konnte. Gleich am ersten Tag der Highschool hatte sie es ganz stark empfunden, in den Korridoren und bei den Spinden, umgeben von den anderen Schülern, die lachten und flirteten. Die greifbare Nähe ihrer Körper hatte sie getroffen wie ein stechender Geruch. Sie sahen schon aus wie College-Studenten – die Mädchen hatten alle schon Busen genug, die Jungs waren schon Arschloch genug – und Maggie hasste College-Studenten. Sie sah sie überall in der Stadt: beim Sonnenbaden auf dem Rasen ihrer Wohnheime und beim Volleyballspielen vor den gediegenen Häusern ihrerStudentenvereinigungen; sie gaben Nachhilfekurse in Spanisch, Französisch und Algebra an der Mittelschule; und sie kauften bei Safeway ein – die Erstsemester schoben Einkaufswagen voll Limonade vor sich her und die älteren Studenten kauften Bier. Maggie wollte nicht zur Universität gehen und eine von ihnen sein, eigentlich hatte sie nie aufs College gehen wollen, aber versuch
das
mal dem Erziehungsberechtigten zu sagen. Wie sollte sie ihrem Vater erklären, dass ihre Highschool-Zeit nichts anderes war als die Vorbereitung auf ein Ziel, das sie verabscheute?
»Hast du Lust auf Pizza?«
Maggie öffnete die Augen, als ihr Vater auf eine Filiale von Domino’s Pizza vor ihnen auf der rechten Straßenseite zeigte – ihre dritte Pizza in sieben Tagen.
»Nein«, murmelte sie. »Wie wär’s mit mexikanisch?«
4
Maggies Traum kam schnell in dieser Nacht. Sie schlief erst seit einer Stunde, da hörte sie draußen vor ihrem Fenster Stimmen – wie aus weiter Ferne, kaum wahrnehmbar, nur als eine weibliche und eine männliche auseinanderzuhalten, und während sie still abwartend dalag, näherten sie sich dem Haus.
Den Kopf auf dem Kissen starrte Maggie den rosa Baldachin ihres Bettes an. Sie drehte sich zur Seite und betrachtete auf den Ellbogen gestützt das Puppenhaus auf dem Fußboden, das voller Plüschfiguren war: winzige Katzen, Pandabären und Nagetiere, die alle gekleidet waren wie Schulkinder in den 1950er Jahren. Ihr Blick wanderte zum offenen Fenster, als die Stimmen deutlicher wurden und Wörter wie
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