Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
größten Wert darauf legten, dass ihre Sprösslinge sich von der Menge abhoben.
Maggies Vater war besser als die meisten. Wenn überhaupt, so hatte er bislang nur gewollt, dass sie etwas lockerer wurde und ihre Hausaufgaben nicht immer erst so spät abends machte. »Auf die Noten kommt es eigentlich noch gar nicht an«, hatte er gesagt, »erst wenn du auf die Highschool gehst.«
Und jetzt kam es plötzlich auf alles an. Jede schlechte Note konnte gegen sie verwendet werden. Ihre Schulzeugnisse würden Teil einer unauslöschlichen Akte werden, die sich Dutzende von Fremden ansehen dürften, um sie auf der Grundlage alberner Buchstaben des Alphabets zu beurteilen: A, B, C. Nicht, dass Maggie mehr als einmal ein C, oder auch ein B, bekommen hätte. Noten waren für sie nicht das Problem. Nein, sie fürchtete, dass sie sich nicht genug an Aktivitäten außerhalb des regulären Lehrplans beteiligte. Denn auch darauf würden diese gesichtslosen Auswahlgremien der Colleges achten. Eine Leidenschaft fürs Bücherlesen allein würde nicht ausreichen, um zu überzeugen. Da würde sie schon in der Lage sein müssen, sich als wohlabgerundete Persönlichkeit zu präsentieren. Doch Maggie war eine einzige Ansammlung von Ecken und Kanten.
Die meisten klugen Kinder waren gut in Musik und konnten auf der Geige glänzen oder auf der Posaune. Auch Maggie hatte versucht, diesem Bild zu entsprechen, und sich sieben Jahre lang am Klavier abgemüht. Doch außer einer ziemlichabgehackten Version der ›Mondscheinsonate‹ hatte sie nicht viel vorzuweisen. Sie würde nie irgendwelche Wettbewerbe gewinnen oder den Schulchor begleiten, doch genau darum würde es den Leuten in diesen überkritischen Auswahlgremien gehen. Sieben Jahre Klavierspiel und keine Preise? Keinen Plattenvertrag? Nichts, was sie außergewöhnlich machte – jeder, der sich an einem College bewarb, musste außergewöhnlich sein.
Sport war noch schlimmer. In der Grundschule hatte Maggie sich wie alle anderen unsportlichen Mädchen beim Kickball und Softball stets irgendwo hinten auf dem Spielfeld postiert, war etwas hin und her gelaufen und hatte ansonsten gebetet, dass keiner der hoch geschlagenen Bälle auf sie zukommen möge. Auf dem Fußballfeld konnte sie mit der Mannschaft läuferisch zwar meist mithalten, aber auch hier vermied sie jeden Ballkontakt. Letzten Endes war sie den männlichen Sportlehrern später dann regelrecht dankbar, als diese sich nicht mehr um die Mädchen bemühten und sie in der Turnhalle mit Schrittzählern am Hosenbund Runden laufen und über ihre Pläne fürs Wochenende plaudern ließen, während die Jungs Basketball spielten.
Was also sollte sie in ihrem Aufnahmeessay fürs College schreiben? Dass sie Mitglied im Schach-Club war? Was sogar stimmte, sie war einige Zeit Schriftführerin des Clubs gewesen – nicht, dass sie Schach besonders mochte. Je öfter sie spielte, desto klarer erkannte sie, dass ihr das Spiel in all seinen Einzelheiten eigentlich ziemlich egal war. Es machte ihr nichts aus, wenn ihr jemand den Läufer wegnahm, diesen plumpen Langweiler – oder die großspurigen Springer. Und die Bauern taten ihr im Grunde leid, so gefangen in ihren kleinen Vorwärtsschritten und nur dann in der Lage, eine neue Richtung einzuschlagen, wenn sie jemanden ausschalten wollten.
Aber die Königin – die gefiel Maggie. Sie ärgerte sich, wenn der blöde Springer irgendeines Jungen sie bedrängte.Frauen sollten mächtig sein, aber die Welt der Männer verschwor sich gegen sie. Das Militär, die katholische Kirche, sie alle hatten es darauf abgesehen, die Macht der Frauen zu vernichten. Schalt ruhig meinen König aus, dachte Maggie, aber lass die Königin überleben.
Ein einziges Mal hatte Maggie all diese Sorgen ihrem Dad anvertraut, eine Woche vor Beginn der Highschool. Doch er hatte bloß gesagt, dass es noch viel zu früh sei, um wegen des Colleges schon in Panik zu geraten. Sie solle sich erst mal in der neuen Schule eingewöhnen, Freundschaften schließen und Spaß haben. In vier Jahren könne eine ganze Menge passieren – und vielleicht nehme ihr Leben ja noch eine neue Richtung, vielleicht entwickle sie plötzlich völlig andere Interessen.
»Und wenn du ein Betätigungsfeld suchst«, fügte er hinzu, »warum machst du nicht bei der Schülerzeitung mit? Du bist eine der besten Aufsatzschreiberinnen in deiner Klasse.«
Sie wusste, dass er ihre Mutter vor Augen hatte, die glänzend schreiben konnte, und etwas
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