Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
zur britischen Literatur gekämpft hatten. Aber wer weiß, vielleicht war es ja eine Art Wordsworth’scher Impuls, hier durch die Landschaft zu streifen und an mondbeschienenen Bachläufen zu verweilen. Vielleicht waren diese biergetränkten Hirne kurz davor, das Konzept der Erhabenheit doch noch zu begreifen.
Jetzt sei nicht so,
ermahnte Emma sich. Als sie im Alter dieser Studenten gewesen war, hatte auch sie Sechserpacks Bier in braunen Papiertüten herumgetragen und in Wäldern und an Flussufern nach Stellen gesucht, die sich am besten für eine Mitternachtsparty eigneten. Manchmal hatten sie und ihre Freunde sich an einem kleinen See niedergelassen, und einmal hatten sie sogar ziemlich angetrunken auf einem Friedhof Flaschendrehen gespielt. Doch Emma hätte nie die Dreistigkeit besessen, einfach auf das Grundstück eines Professors vorzudringen. Aber das schien ja ohnehin der Unterschied zwischen dieser Generation und der ihren zu sein – dieunbedingte Anspruchshaltung der jungen Leute, so als wären die Erwachsenen nur dazu da, ihnen zu dienen.
Den einen der Studenten mochte sie ganz gern, den großen mit den braunen Haaren namens Jacob. Den ganzen Herbst über hatte er geredet wie ein Wasserfall, denn er war einer von denen, die stets eine Meinung zu allem parat hatten, ob es um Coleridge ging oder Keats. Wann immer die Diskussion im Seminar einen toten Punkt erreicht hatte, konnte man darauf setzen, dass Jacob sie wiederbelebte. Seine schriftlichen Arbeiten waren allerdings enttäuschend gewesen. Sie hatten zwar immer voll kühner Behauptungen gesteckt, an durchdachten Argumentationen, die seine Thesen dann auch belegten, hatte es aber gemangelt. Letztlich, so fürchtete Emma, war Jacob wohl vor allem ein Blender und ohne echte Substanz – dennoch, an einem langweiligen Nachmittag im Seminar war auch ein Blender nicht zu verachten.
Neben ihm stand ein junges Mädchen, dessen Namen Emma sich nie hatte merken können. Sie war völlig unauffällig in ihren ausgewaschenen Jeans und den unvermeidlichen Flip-Flops, und auch ihr schmales Gesicht und ihr glattes Haar, das weder richtig blond noch braun war, fielen nicht weiter auf. Im Seminar schien sie sich nichts mehr gewünscht zu haben, als mit den sie umgebenden Wänden zu verschmelzen, weshalb Emma versucht hatte, sie mit offenen Fragen aus der Reserve zu locken: »Was bedeutet das für
Sie
: ›Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit Schönheit‹?« Doch das Mädchen hatte stets nur die Achseln gezuckt und gelächelt, da sie anscheinend annahm, dass eine Geste der Unterordnung ausreichen würde.
Als auch der dritte Student sich zu ihr umdrehte, zuckte Emma kurz zusammen. Den kannte sie nur allzu gut, diesen lustlosen, trägen Blonden – Kyle Caldwell, der Sohn eines ehemaligen Absolventen des Colleges mit Geld wie Heu. Kyle hatte eine Art an sich, ihr immer viel zu direkt in die Augen zu sehen, gerade so, als wäre jede ihrer Begegnungen einWettkampf im Anstarren, den Emma letztlich doch verlieren würde. Als sie den Blick diesmal senkte, sah sie, dass der junge Mann bleiche, plumpe Beine hatte, die im Mondlicht leuchteten und sie an seine Aufsätze erinnerten – schwammig und von Plattitüden durchsetzt.
Trotzdem hatte sie Kyle aus feiger Großzügigkeit heraus die Note B gegeben. Nur selten fügte sie ihren Bs auch das gefürchtete Minus hinzu, das winzige Zeichen dafür, dass die Leistung eines Studenten unter dem inflationär gebrauchten Durchschnitt des Holford Colleges geblieben war. Vermutlich wollte sie sich damit den nörgelnden Protest der Studenten ersparen oder die Empörung der mit Adleraugen über ihre Kinder wachenden Eltern. Vermeidung von Konfrontation war Emmas Spezialität. Sie sah sich als eine Art intellektueller Hafenlotse, der sich von den roten Warnbojen fernhielt und stets nach der Hauptfahrrinne suchte. Aber wenn irgendwer ihren Zorn verdient hatte, dann dieser Kyle Caldwell, und das nicht wegen seines saft- und kraftlosen Verstandes – so etwas kam oft genug vor –, sondern wegen ihres Verdachts, dass Kyle ein Dieb war.
Einmal war er zu ihr ins Büro gekommen, um über einen Essay zu reden, den er am nächsten Vormittag abgeben sollte. Doch er hatte sich noch nicht einmal ein Thema ausgesucht und wollte, dass sie ihm eins nannte. Emma erschien er wie ein klaffender Schlund, stets bereit, alles, was sich ihm bot, zu verschlingen. Sie hätte ihn am liebsten hinausgeworfen und ihm seine so demonstrativ zur Schau
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