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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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Ampel hielten, blieb neben Maggie eine von zwei dunkelbraunen Pferden gezogene Droschke stehen. Diese Droschke hatte nichts an sich von den noblen Cinderella-Kutschen, die sie im Central Park in New York gesehen hatte, mit ihren offenen Verdecks und den roten Samtbezügen, in denen Frischvermählte unter Fleecedecken miteinander schmusten. Dieser einfache rechteckige Kasten mit einem Schutzdach aus Segeltuch hatte drei Holzbänke, auf deren lederbezogenen Sitzflächen unruhig eine Handvoll älterer Touristen herumrutschte. Und im nächsten Moment blinzelten sie alle schon in den Himmel hinauf, weil ein Fremdenführer in der Uniform der Konföderierten sie auf den Kupferturm der Episkopalkirche aufmerksam machte.
    Diese Fremden fanden ihre Heimatstadt bestimmt malerisch, dachte Maggie. Vermutlich stellten sie sich das Leben in Jackson als reizend und ungefährlich vor, ein Ort, in dem konservative Familienwerte herrschten; und wenn heute einer ihrer Neunzig-Prozent-Tage gewesen wäre, hätte sie ihnen vielleicht sogar zugelächelt. Zumindest hätte sie zugegeben, dass die Gegend hier ziemlich hübsch war, mit den schmalen Straßen, die sich durch baumbestandene Wohngebiete westwärts zogen, bis sie in die Wiesengründe und Wälder am Fuße der Appalachen mündeten. Zurzeit ging ihr all diese Selbstgefälligkeit jedoch so auf die Nerven, dass sie am liebsten eine Wasserstoffbombe geworfen hätte.
    »Der Arzt sagt, dass Albträume von Stress ausgelöst werden können.« Maggie war selbst überrascht, als sie ihre eigene Stimme einen der längsten Sätze sagen hörte, die sie seit Wochen für ihren Dad erübrigt hatte.
    »Hast du denn Stress?«, fragte er.
    Sie seufzte und lehnte ihre Stirn an die Scheibe. Genau deshalb redete sie mit ihrem Dad in letzter Zeit kaum noch   – er war lieb, aber völlig ahnungslos. Natürlich waren diese ersten Monate auf der Highschool der pure Stress für sie gewesen. So was musste man erst mal überleben. Bereits zweiWochen vor dem ersten Schultag war ihr zum ersten Mal übel geworden, und das war immer so weitergegangen. Inzwischen war ihr schon seit siebzig Tagen dauernd schlecht, und sie hatte fast drei Kilo abgenommen, unfreiwillig. Maggie war nicht wie die anderen schlanken Mädchen in der Schule, die ständig klagten, wie fett sie seien, in der Eisdiele Brownies mit Eis vertilgten und sich dann die Seele aus dem Leib kotzten, sobald sie zu Hause waren. Sie hätte gern etwas an Gewicht zugelegt, wenn sie nur Appetit gehabt hätte. Aber Maggie hatte in den letzten zwei Monaten gar keinen Hunger verspürt   – ein weiterer Grund dafür, dass ihr Vater ihr eine weitere Runde Therapie vorgeschlagen hatte. Sie sei zu dünn und zu blass, hatte er gesagt.
    Schau mal in den Spiegel, Daddy,
hätte sie am liebsten erwidert.
Da kannst du eine Vogelscheuche sehen.
Aber Maggie brachte es nie fertig, gemein zu ihrem Vater zu sein. In der Schule hatte sie mitbekommen, wie manche andere Kinder über ihre Eltern herzogen und über die runden Kugelbäuche ihrer Väter und die dicken Hinterteile ihrer Mütter lachten. Es hatte sie richtig schockiert, wie grob und gehässig diese Kinder sein konnten, unglaublich bissig in ihrem Urteil und vollkommen überzeugt von ihrer eigenen Überlegenheit.
    Sie vermutete, dass die anderen Kinder sich auch über ihren Vater lustig gemacht hatten, wenn sie nicht dabei war   – wenn auch nicht wegen seines Gewichts. Ihr Vater war nie dick gewesen, doch sein Körper, einst schlank und kräftig, schien jetzt vor der Zeit zu altern und war knochig und hager. In einer Gruppe von Vätern mittleren Alters wirkte er richtiggehend ausgezehrt. Die meisten einheimischen Männer seines Alters trugen einen Bauch vor sich her, weil ihre Ehefrauen ihnen zu Hause Schmorfleisch mit Stampfkartoffeln und Pfirsichkuchen vorsetzten. Maggie und ihr Vater waren dagegen zwei Skelette, die abends über ihren Makkaroni-Fertiggerichten mit Käse einen
Danse macabre
aufführten.
    »Klar hab ich Stress«, sagte Maggie, ohne die Stirn von der Scheibe zu lösen. Heutzutage waren nur die Teenager nicht gestresst, denen das College egal war oder deren Eltern es egal war, denn es waren die Eltern, die den Druck machten. Deren Erwartungen lasteten wie eine zusätzliche Schwerkraft auf ihren Kindern. Die meisten Mädchen, die Maggie kannte, kauten schon seit der fünften Klasse Fingernägel, weil sie genau spürten, wie sie immerzu getestet und ausgesiebt wurden, von Eltern überwacht, die

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