Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Lügen als gemeinsames Werk aus und überließ es Professor Greene, die Anteile der Schuld wie die Noten bei einem Gruppenprojekt zu bestimmen.
»Es tut mir so leid«, sagte Grace schließlich, »alles, was ich Ihnen angetan habe.«
»Was, glauben Sie denn, haben Sie mir angetan?«, fragte Emma.
»Meinetwegen haben Sie Ihren Job verloren.«
Emma sah zwei lachende Holford-Studentinnen mit ihren Rucksäcken über den Schultern am Ladenfenster vorbeigehen. Die akademische Welt zu verlassen war ein harter Schnitt gewesen, weil sie die Literatur liebte und die weitläufigenDiskussionen im Seminar, die Begeisterung der klügsten Studenten und die langen Sommermonate mit Schreiben und Lesen. Aber sie würde Grace gegenüber nicht zugeben, dass sie irgendetwas bedauerte.
»Ich habe meinen Job nicht Ihretwegen verloren, diese Veränderung hätte sowieso stattgefunden. Und der Job, den ich in Washington annahm, war viel passender.«
»Wenn Sie Ihren Job nicht meinetwegen verloren haben«, sagte Grace, »dann haben Sie anderes meinetwegen verloren – wie Ihr Haus. Wären Sie nicht am Wade’s Creek geblieben, wenn es diese Nacht nicht gegeben hätte?«
Emma gefiel nicht, welche Richtung dieses Gespräch nahm – als hätte diese Studentin so viel Macht über ihr Leben gehabt. Stattdessen sah sie Maggie an, die in ihren Kaffee blies, dass er kleine Wellen schlug. »Hat es dir leidgetan, unser altes Haus zu verlassen?«
Maggie zuckte die Achseln. »Ist richtig praktisch jetzt, so nahe bei Kate zu wohnen, und dass wir alles in der Stadt zu Fuß erreichen können. Aber als ich klein war, habe ich den Bach und den Magnolienbaum vermisst, auf den ich immer geklettert bin. Bei unserem Haus gibt’s keine richtig guten Kletterbäume.«
Emma blickte aus dem Fenster. Der Verlust ihres Hauses, der Verlust von Rob, der Verlust ihres Jobs am Holford College, nichts davon hatte für Emma so viel Gewicht wie das eine – das Wichtigste von allem – der Verlust des Vertrauens ihrer Tochter. Das Bild, wie Maggie langsam ihre Zimmertür zuzog, blitzte in Emmas Gedanken auf, zusammen mit hundert anderen Erinnerungen: Maggie, wie sie an Robs Schulter ihr Gesicht wegdrehte, wie sie einen Schritt zurücktrat, als Emma bei einem Schulpicknick auf sie zukam, wie sie eine enttäuschte Miene machte, wenn ihre Mutter sie nach der Schule abholte.
Weshalb die Umarmung gestern auch so etwas Besonderes gewesen war. Nach neun Jahren halbherziger Umarmungenbei Ferienbesuchen und mechanischen Küssen auf die Wange, ohne Freude, ohne Liebe, hatte Maggie ihre Mutter schließlich richtig in die Arme geschlossen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Emma begriff plötzlich, was die Redewendung »in die Arme schließen« bedeutete – jemanden annehmen, unterstützen, aufrecht halten. Jahrelang hatte Emma sich gesagt, dass Maggie eines Tages die Vergangenheit verstehen würde, und vielleicht war diese Umarmung der Anfang.
Plötzlich spürte sie den dringenden Wunsch, Grace Murdock loszuwerden. »Haben Sie mir noch etwas anderes zu sagen?«
Grace zögerte, senkte den Blick. »Ja.« Sie griff in ihre Handtasche, und als sie ihre Hand wieder herauszog, hielt sie etwas fest umschlossen in der Faust. Langsam öffnete sie sie, Finger um Finger, und da lag, auf ihrer Handfläche, Emmas Bettelarmband.
Emma sah die silberne Eule, das Hufeisen und die winzigen Ballettschuhe an. Sie griff danach, hob das Armband hoch und musterte das kleine, auf einer Seite aufgeschlagene Zinnbuch, in das die Initialen ihres Mädchennamens eingraviert waren, EMP. Emma Margaret Patrick.
»Ich habe die Polizei angelogen«, erklärte Grace. »Ich habe gesagt, dass ich mein eigenes Bettelarmband trug in der Nacht damals. Ich bin an dem Morgen, als Jacob starb, sogar nach Charlottesville gefahren und habe ein silbernes Armband mit einer Menge Anhängern gekauft, das ich der Polizei zeigen konnte. Und am nächsten Tag haben sie tatsächlich gesagt, dass sie es sehen wollen. Aber sie haben nicht bemerkt, dass meins brandneu war. Vielleicht wäre es einer Polizistin aufgefallen, aber die Deputys waren alle Männer.«
»Das hat Kyle Ihnen gegeben«, murmelte Emma und hielt das Armband mit den Anhängern an ihr Handgelenk.
»Nein.« Grace errötete. »Darum geht es ja. Sie hatten recht damals, Kyle war ein Dieb – er hat jeden Tag gestohlen,auch Schmuck. Aber dieses Armband hat nicht er gestohlen, sondern ich.«
Emma starrte Grace an, gefangen zwischen Verwirrung und
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