Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Schock.
»Als ich eines Tages in Ihr Büro kam, um einen Essay zu besprechen, stand Ihre Tür offen, und da sah ich das Armband. Und nachdem ich Kyle monatelang beim Stehlen zugesehen hatte, kam ich plötzlich auf die Idee, es mir einfach zu nehmen. Ich hab gar nicht darüber nachgedacht«
»Aber warum haben Sie es dann in jener Nacht bei meinem Haus getragen?«
»Ich hatte keine Ahnung, dass wir bei Ihrem Haus anhalten würden. Und ich habe nicht mal bemerkt, dass ich es trug, bis Sie nach meinem Handgelenk griffen.«
Emma betrachtete ihre Initialen – die beinahe das Wort EMPÖRT bildeten. Und plötzlich begann sie zu lachen. Ein dunkles Lachen, ein bitteres Lachen. Ein Lachen über die aberwitzige Ironie des Ganzen. Wegen dieses Armbands hatte sie gedroht, Kyle vom College werfen zu lassen. Sie hatte ihn des einen Diebstahls beschuldigt, den er nicht begangen hatte, und diese Anschuldigung hatte die Konfrontation mit Jacob ausgelöst. Kein Wunder, dass Kyle sie für verrückt erklärt hatte – er hatte wahrscheinlich nicht die leiseste Ahnung gehabt, warum sie nach Sandras Handgelenk griff und es so demonstrativ in die Höhe hielt.
Und letzten Endes war es verrückt gewesen von ihr, anzunehmen, dass die beiden Studenten die Schuldigen waren und das unsichtbare junge Mädchen nur eine schweigende Zuschauerin. Wie hatte sie so blind sein können, die Wahrheit zu ignorieren – dass Frauen genauso schuldig sein konnten wie Männer, genauso verschlagen und gewalttätig. Trotz all der Verbrechen, die Kyle und Jacob in der Vergangenheit begangen haben mochten, in jener Nacht vor neun Jahren waren Sandra und sie die Diebin und die Mörderin gewesen.
»Ich verstehe nicht, was daran so lustig sein soll.« Gracehasste es, ausgelacht zu werden. »Ich wollte es wiedergutmachen. Schon seit Jahren wünsche ich mir, dass ich irgendetwas tun könnte.«
Emma hörte mechanische Entschuldigungen im Heim jeden Tag. Aber warum die unechte Reue dieser Frau nicht mal beim Wort nehmen?
»Sie könnten etwas tun.«
Emma sah ihrer einstigen Studentin in die Augen und sprach wohlüberlegt. »Schreiben Sie alles auf, was Sie mir erzählt haben – alle Details über Jacobs Gewalttätigkeit und Kyles Diebstähle und dass Sie mein Armband gestohlen haben. Erklären Sie in allen Einzelheiten, was vor neun Jahren bei meinem Haus geschah, von dem Moment an, als Sie ankamen, bis zu der Geschichte, die Sie der Polizei erzählt haben. Schreiben Sie alles auf und setzen Sie Ihren Namen darunter. Dann schicken Sie eine Kopie an den Chefredakteur der ›Jackson Gazette‹ und mailen es auch noch an Janice Lee beim ›Chronicle‹. Die Zeitung von Jackson wird Ihre Geschichte vermutlich als Leserbrief bringen, und Janice wird sie wahrscheinlich als Grundlage für einen rückblickenden Artikel nutzen. Sie wird Sie sicher um ein Interview bitten, und ich möchte, dass Sie es ihr geben. Ich möchte sogar, dass Sie alle Interviewanfragen annehmen, die kommen werden. Ich möchte eine Ehrenrettung«, fuhr Emma fort. »Vielleicht zucken die Leute in dieser Stadt dann bei meinem Anblick nicht mehr gleich zusammen.« Sie hielt kurz inne. »Erinnern Sie sich noch an das lange Gedicht von Coleridge, das wir im Seminar gelesen haben? ›Der alte Matrose‹?«
Grace nickte.
»Jetzt ist es an Ihnen, der Matrose zu sein.«
Grace sah wieder auf ihre Hände. Was ging da vor sich zwischen dieser Mutter und ihrer Tochter, die sie beide ständig aufforderten, ihre Geschichte wieder und wieder zu erzählen? Soweit sie sich an Coleridges Gedicht erinnern konnte, war der alte Matrose eine ziemlich mitleiderregendeGestalt. Dennoch, er war auch ein erlöster Christ, der seine Sünde mit jeder Wiederholung minderte.
»Okay.« Sie zögerte. »Nur eins – lassen Sie mich bis zum Frühling warten, vielleicht im April. Wenn die Zeitung diesen Leserbrief veröffentlicht, wird jeder in der Stadt erfahren, wer ich bin und was ich getan habe, und ich werde meinen Job verlieren, den ich aber brauche, um meine Tochter zu ernähren. Geben Sie mir die Möglichkeit, das Schuljahr abzuschließen und mir einen Job irgendwo anders zu suchen.«
»Gut.« Emma zuckte die Achseln. »Dann also im April. Oder besser noch im Mai. Am 16. Mai. Sagen Sie den Zeitungen, dass Sie eine spezielle Geschichte zum zehnten Todestag von Jacob Stewart haben. Und hier.« Emma reichte ihr das Armband. »Behalten Sie es. Zeigen Sie jedem, der danach fragt, meine eingravierten
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