Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
McClusky hätten um jeden Preis gelogen, nur um ihre eigene Haut zu retten. Und als sich das alles wie ein Lauffeuer verbreitete, hättest du es gar nicht mehr stoppen können. Was immer du auch gesagt hättest, Mrs Stewart wäre es sowieso egal gewesen – sie war wild entschlossen, Rache zu üben, und es sieht so aus, als wäre Lauren Cross die Einzige gewesen, in deren Macht es stand, den Gang der Dinge noch aufzuhalten. Eine Aussage von dir wäre bedeutungslos gewesen.«
»Hätte es dir etwas bedeutet?«, fragte Maggie. »Zu wissen, dass ich dich unterstütze?«
Emma schwieg und fragte sich, welche ganz eigene Hölle Maggie in all den Jahren wohl durchgemacht haben mochte. Sie hatte stets den Schmerz und die Angst hinter dem anfänglichen Schweigen ihrer Tochter gespürt, aber von diesem Schuldgefühl hatte sie nichts geahnt – noch ein weiterer Schatten zwischen ihnen.
»Weißt du«, sagte sie nach einer Weile, »es ist leicht, als Teenager mit klarem Blick zurückzuschauen. Aber damals, als du fünf Jahre alt warst, hast du vermutlich gar nicht verstanden, was um dich herum geschah. Kleine Kinder wissen nicht wirklich, was ein College ist, oder Alkohol, oder dass es Menschen gibt, die zu schrecklichen Dingen fähig sind. Diemeisten Fünfjährigen können noch nicht einmal Fantasie und Realität auseinanderhalten. Mit fünf hast du wahrscheinlich noch an den Weihnachtsmann geglaubt, der den Kamin herunterkommt, und an Wichtel, die am Nordpol Spielzeug machen. Und an die Zahnfee. Überleg mal, wie Kinder in dem Alter denken, wenn sie all das glauben. Ich bezweifle, dass du irgendeine klare Vorstellung von dem hattest, was du gesehen hast oder was es bedeutet hat. Du hast versucht, mir mit deinem Schweigen zu helfen, glaube ich.«
Maggie widersprach ihr nicht, auch wenn sie es insgeheim besser wusste. Das Problem war nicht nur ihr Schweigen vor neun Jahren, sondern ihre Furcht mit sechs, ihre Kälte mit acht und ihre Distanziertheit mit zwölf. Neun Jahre lang hatte sie ihre Mutter wie eine Ausgestoßene behandelt, und sie fragte sich, wie lange es dauern würde, diesen Schaden wiedergutzumachen.
Emma schob ein Kissen ans Kopfende des Bettes und lehnte sich zurück. »Reden wir von etwas anderem. Ich will alles über den Homecoming-Ball hören.«
Maggie kickte ihre Flip-Flops von den Füßen, kletterte auf das Bett und streckte ihre langen Beine neben den kürzeren ihrer Mutter aus.
Emma hätte gern einen Arm um ihre Tochter gelegt, doch sie konnte nicht einschätzen, ob Maggie das nicht peinlich wäre. Stattdessen tätschelte sie ihr das Knie. »Erzähl mir alles.«
23
Das Café lag mitten im historischen Zentrum der Stadt, wo die Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert im Erdgeschoss große Ladenschaufenster hatten, die von grünen und blauen Markisen beschattet wurden. Als Emma eintrat, zuckte sie beim Geklingel der Glocke zusammen und wandte dem Raum instinktiv die rechte Seite ihres Gesichts zu, in der Hoffnung, ihren blauen Fleck so vor den Blicken der beiden Frauen mittleren Alters auf dem gestreiften Sofa rechts von sich verbergen zu können.
Normalerweise fand Emma diesen Raum mit seinen warmen aromatischen Kaffeegerüchen beruhigend, doch heute wirkte er zu hell und exponiert auf sie. Die meisten Leute in Jackson erinnerten sich noch an den Skandal, und welcher neue Klatsch würde durch die Stadt schwappen, wenn sie erkannten, dass hier Sandra McCluskey mit Maggie und ihr zusammensaß? Und doch hatte Emma nicht widersprechen wollen, als Maggie ihr den Ort des Treffens nannte. Diese Zusammenkunft fand um ihrer Tochter willen statt, die jetzt die Tür hinter sich schloss. Maggie sollte die Szene so inszenieren, wie sie es wünschte, sollte Schauplatz, Requisiten und Figuren auswählen, und Emma würde die ihr zugedachte Rolle spielen. Ihr einziger Beitrag war es, einen Tisch ganz hinten auszusuchen, weit weg vom Fenster, in einer Ecke, die zum Teil von einem Gummibaum verdeckt wurde. Sie hängte ihre Strickjacke über die Lehne eines Stuhls, der mit dem Rücken zu den anderen Tischen stand, und warf kurz einen Blick durch den Raum auf der Suche nach Sandra McCluskey,deren Anblick sie fürchtete. Als sie nur die Gesichter Fremder sah, die sich auf Zeitungen oder die Leute an ihren Tischen konzentrierten, ging sie zu Maggie, die schon am Tresen anstand und die mit oranger, blauer und lila Kreide auf eine Tafel geschriebenen Spezialitäten las.
»Was möchtest du haben?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher