Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Emma.
»Die Hausmischung.«
»Du trinkst Kaffee?« Emma hatte ihrer Tochter immer heiße Schokolade gemacht.
»Nein, Mom, würde ich doch nie wagen.« Maggie erschrak selbst über ihren automatischen Sarkasmus. »Tut mir leid.«
»Schon gut.« Emma kaufte noch einen Cranberry-Muffin, der hoffentlich ein wenig ansetzen würde an der knochigen Gestalt ihrer Tochter, und zusammen gingen sie in die Ecke und warteten schweigend, während Maggie Walnussstückchen aus dem Muffin pickte und eins nach dem anderen aß.
Durch das Fenster sah Emma Sandra die Straße entlangkommen und erkannte, dass sie sich wegen des Klatsches keine Sorgen hätte machen müssen. Niemand würde ihre ehemalige Studentin wiedererkennen, denn Rob hatte recht gehabt, was die Veränderungen der Frau anging – anderes Haar, etliche Kilo schwerer und, als sie hereinkam, das von Schlafmangel gezeichnete Gesicht einer alleinstehenden Mutter mit einem kleinen Kind. Dennoch erkannte Emma Sandra McCluskey sofort – das blasse Gesicht mit dem wenig ausgeprägten Kinn, die Augen ohne Feuer –, eine reifere Version der Studentin, die ihre Antworten auf Fragen im Seminar immer nur gemurmelt hatte. Aber trotz aller Anspannung und Verachtung für diese Frau erinnerte Emma sich auch noch an etwas anderes aus dem Semester. Einmal war Sandra zu ihr ins Büro gekommen und hatte sich danach inspiriert gefühlt, einen sehr guten Essay zu schreiben. Ja, genau, Emma erinnerte sich, dass sie kurz einen Zugang zu diesem jungenMädchen gefunden hatte – was Sandras Verrat an ihr nur umso schlimmer gemacht hatte.
Sandra kaufte sich keinen Kaffee. Sie kam an ihren Tisch und blieb hinter dem leeren Stuhl stehen, da sie sich ohne eine Einladung anscheinend nicht setzen wollte.
»Das ist Mrs Murdock«, sagte Maggie.
»Wir kennen uns«, erwiderte Emma. Sie konnte Sandras Blick auf ihre geschwollene Wange spüren und wandte ihr Gesicht mit einer Handbewegung zu dem leeren Stuhl leicht zur Seite. »Sie wollten mich treffen?«
»Maggie hat darum gebeten«, begann Sandra, als sie sich setzte.
»Sie wollten nicht kommen?«, forderte Emma sie heraus. »Dann sollten Sie vielleicht gehen.«
»Nein …« Sandra hielt inne. All ihre vorbereiteten Worte entschwanden beim ersten Anblick ihrer früheren Professorin. »Ich will schon seit Jahren mit Ihnen sprechen, aber es ist schwierig … Ich dachte wohl, wenn ich mich bei Maggie entschuldige, dann würde sie es Ihnen ausrichten, und ich müsste mich nicht mit Ihnen treffen.«
»Wäre Ihnen das lieber, Sandy? Mich nicht zu treffen?«
»Ich heiße nicht mehr Sandy. Ich benutze jetzt meinen zweiten Vornamen, Grace.«
Emma machte eine Handbewegung, als wollte sie eine Fliege verscheuchen.
Grace Murdock starrte auf ihre Hände und betrachtete grübelnd den weißen Streifen dort, wo früher ihr Ehering gesessen hatte. Sie wünschte, sie könnte Professor Greene davon überzeugen, dass neun Jahre eine Frau verändern konnten, besonders wenn diese Jahre Ehe, Mutterschaft und Scheidung umfassten.
Maggie sah den gesenkten Blick ihrer Lehrerin und den angespannten Zug um den Mund ihrer Mutter und wusste, das Mrs Murdock keine Chance hatte, wenn ihre Mutter zum Angriff überging. Vielleicht verdiente ihre Lehrerin das;vielleicht sollte sie ihre Mutter auf diese Frau losgehen lassen. Aber Maggie hatte die beiden Frauen nicht zusammengebracht, um sie streiten zu sehen.
»Sie sollten meiner Mom die Geschichte über Jacob erzählen, die Sie mir erzählt haben«, sagte sie aufmunternd. »Deshalb sind wir hier.«
Grace schloss kurz die Augen –
Betete sie etwas?
, fragte Maggie sich – und begann dann langsam zu schildern, was sie über Jacobs Heuchelei, Jacobs Grausamkeit und Jacobs herzlose Tötung einer Katze wusste. »Wenn er ein Tier so behandeln konnte, hätte er auch einen Menschen so behandeln können, glaube ich.« Grace sah Emma einmal kurz in die Augen.
Ja, das konnte Emma sich vorstellen. Menschen, die Tiere quälten, würden wahrscheinlich auch Menschen misshandeln. Die Kinder im North Capitol Center erzählten oft furchtbare Geschichte über abgeschlachtete Welpen, einäugige Katzen und in Müllcontainer geworfene Kaninchen.
Grace erklärte, warum sie beim Haus der Greenes gewesen waren und wie Kyle und sie in Panik gerieten und sich eine falsche Geschichte zurechtlegten, nachdem sie weggelaufen waren. Sie gestand jedoch nicht, dass diese Geschichte größtenteils von ihr stammte, sondern gab die
Weitere Kostenlose Bücher