Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Sie etwa Angst, Sie könnten Ihre bequeme Lebensfinanzierung verlieren?«
Jacobs Lächeln schwand.
Emma trat durch die Fliegengittertür ins Haus. Nie wieder würde sie sich so etwas gefallen lassen. Nie wieder würdesie die nette Professorin sein, die lockere B+, die Frau, die Abgabetermine unbefristet verlängerte und einmal im Jahr zum Picknick einlud. »Kyle wird morgen Vormittag vom Ehrenkomitee hören.«
»Das können Sie doch nicht machen«, murmelte Jacob.
»Sie werden schon sehen«, erwiderte Emma und schlug die schwere Haustür hinter sich zu.
Nur dass sie nicht schloss. Nicht ganz jedenfalls. Denn Jacob hatte seinen Fuß in den Türspalt gestellt und drückte jetzt mit seiner Schulter gegen das Holz.
»Ich will nur mit Ihnen reden«, versicherte er.
Emma stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür und versuchte, den eindringenden Fuß einzuquetschen, auch dann noch, als sie längst spürte, wie die Tür sich langsam immer weiter öffnete.
»Kommen Sie schon«, schmeichelte Jacob mit ölig glatter Stimme. »Lösen wir das Ganze doch auf andere Weise.«
Und plötzlich fiel Emma auf, wie dunkel die Bäume um sie herum waren und wie weit weg vom nächsten Nachbarn sie wohnte. Ihre Gedanken flogen zu ihren Küchenmessern, solide deutsche Klingen, die in einem Holzblock steckten und einladend die Griffe hervorstreckten, und beinahe hätte sie laut aufgelacht. All diese Jahre stummer Akzeptanz, all die Wut, die sie unterdrückt hatte, nur damit sie nun einen neuen Höhepunkt erreichte wegen des Fußes eines Studenten, der mittlerweile auch sein Knie, ja sein ganzes Bein in ihr Haus hereinzudrängen suchte.
»Nur auf ein Wort«, sagte Jacob. Doch durch die sich immer weiter öffnende Tür sah Emma, wie auch Kyle die Stufen zur Veranda wieder heraufkam, im Gesicht – ja, was eigentlich? – einen fast lächelnden Ausdruck.
»Nur auf ein Wort«, wiederholte Jacob, als Emmas Finger nach dem Griff von Robs hölzernem Baseballschläger tasteten. Von oben hörte sie ein ersticktes Wimmern von Maggie, die durch den offenen Spalt ihrer Zimmertür spähte.
ZEUGIN
1
»Überall war Blut – auf dem Boden, auf dem Läufer, auf der Flurkonsole. Es war alles so rot, dass ich dachte, Flammen würden die Wände hinaufzüngeln, und bei dem Gedanken an Feuer wollte ich nur noch eins: fliehen. Denn das war es, was meine Mom mir eingeschärft hatte für den Fall, dass es brennt. Schnellstens raus aus dem Haus.
Ich zog die zusammengelegte Strickleiter unter meinem Bett hervor, die an einem der dicken hölzernen Bettpfosten befestigt war. Mom hatte sie im Jahr zuvor dort angebracht, weil sie immer mit dem Schlimmsten rechnete. Sie war eine Frau mit einem regelrechten Sicherheitswahn, redete dauernd von Fahrradhelmen, Rettungswesten und Wasserfiltern. Wir hatten in jedem Zimmer Rauchmelder. Geräte, die den Kohlendioxidgehalt der Luft maßen. Dreimal hatte sie mir schon erklärt, wie ich aus meinem Zimmer herauskommen könnte, falls es brannte, aber ich war noch zu klein gewesen, um an die Metallhaken heranzureichen, mit denen man das Fenster öffnete. Ich war ja erst fünf.
In jener Nacht damals stand das Fenster bereits offen und ließ eine leichte Brise und fremde Stimmen herein. Ich musste nur noch das Fliegengitter aufmachen. Ich erinnerte mich ganz genau an die Anweisungen meiner Mutter: ›Siehst du diese metallenen Rechtecke? Und siehst du, wie ich sie jetzt mit den Fingern hineindrücke?‹ Ich war überrascht, wie leicht sich das Fliegengitter hochschieben ließ, als ich die magischen Knöpfe drückte.
Als ich die Strickleiter aus dem Fenster warf, schlug siehart gegen die Aluminiumverkleidung unseres Hauses, und ich hatte Angst, dass die Studenten auf diese Seite des Hauses gerannt kommen könnten, mich sehen und unten auf mich warten würden. Aber es kam niemand, und so kletterte ich auf die Fensterbank. Das hatte Mom mir nie vorgemacht, und sie hatte auch nie ausprobiert, ob die Strickleiter halten würde. Ihre Feueralarmübungen waren immer nur rein verbal gewesen: ›Krabble auf die Fensterbank, halt dich gut an der Leiter fest. Und dann steig ganz langsam hinaus und klettere die Sprossen hinunter, genau so, wie du es in der Vorschule auf der Strickleiter gemacht hast.‹
Aber es war nicht so wie in der Vorschule. Dort konnte ich den Fuß in die Zwischenräume der Leiter schieben, sodass ich auf den Holzsprossen gleich Halt fand. Hier hing die Strickleiter jedoch direkt an der Hauswand
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