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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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gestellte arrogante Faulheit vorgeworfen. Doch stattdessen hatte sie bloß die übliche Mahnung von sich gegeben, dass die Studenten ihre Essays nicht erst in letzter Minute schreiben sollten. So würde ihm keine Zeit mehr bleiben, den Text noch einmal zu überarbeiten, keine Zeit mehr, ihn zu
verdauen.
Kyle hatte ihre Vorhaltungen hingenommen wie ein angeleinter Pudel, mit konzentriertem Blick und ohne auch nur ein einziges Mal mit der Wimper zu zucken, aber in dem sicherenWissen, dass er den Knochen letzten Endes doch bekommen würde.
    Als er gegangen war, hatte Emma ihre Pinnwand in der seltsamen Überzeugung angestarrt, dass irgendetwas fehlte. War es ihr Herz oder ihr Mut? Waren es die intellektuellen Standards, die sie vor Jahren schon zugunsten von allerlei Kompromissen aufgegeben hatte? Sie konnte erst benennen, was genau fehlte, als sie das Stück am nächsten Nachmittag an Kyles Rucksack entdeckte   – ein blau-weißer Button mit dem Slogan »Krieg ist keine Lösung«. Den musste er von ihrer Pinnwand genommen haben, als sie hinausgegangen war, um ein Gedicht für ihn zu fotokopieren. Es machte ihr nichts aus, dass er diesen Button jetzt hatte   – sie waren dazu da, verteilt zu werden. Was sie wurmte, war das Gefühl, dass er sich damit auf subtile Weise über sie lustig machte. Denn neben den alten Bush/Cheney-Buttons, die seinen Rucksack verunzierten, nahm ihr Friedensappell sich klein und geradezu umzingelt aus.
    Emma hatte in der Angelegenheit nichts unternommen, nur beruhigend auf ihr vor Wut schäumendes Inneres eingeredet.
Lass los, lass los.
Das war ihr Mantra in diesen Tagen.
Lass einfach alles los.
Sie brauchte ein Mantra, irgendetwas, das den Ärger linderte, der in ihr schwärte. Im Laufe der letzten Jahre hatte sich eine anhaltende Gereiztheit in ihrem Denken breitgemacht, und sie konnte nicht sagen, ob das ein Symptom des Drucks war, unter dem sie wegen der Festanstellung stand, oder eine Haltung, die zurzeit in der amerikanischen Alltagskultur um sich griff. Wut schien der neueste Zeitvertreib der Nation zu sein, wenn man an all die Verkehrsrowdys und den Wahn der Übermütter dachte, an all die hysterischen Superbräute, Extremzicken und Starköche direkt aus der Hölle. Wut war ein Verkaufsschlager geworden.
    Emma konnte die Ursache ihrer eigenen Frustration nie genau benennen. Waren es einfach nur die schwierigen Studenten mit ihrer schamlosen Erwartungshaltung? Oder war es ihrInstitutsleiter, der sie immer nach ihrer Kinderbetreuung, aber nie nach ihrer Forschungsarbeit fragte? Oder ärgerte sie sich am meisten über die anonymen vorbeibrausenden Autofahrer, die ihre leeren Bierdosen und Schachteln von McDonald’s im hohen Gras entlang der Straße vor ihrem Grundstück entsorgten? Jeden Nachmittag, wenn sie nach Hause fuhr, hingen wieder Plastiktüten in den Zweigen der Judasbäume.
    Kyle Caldwell, der jetzt leicht angetrunken von einem Fuß auf den anderen wankte, schien alle drei ihrer Kümmernisse zu verkörpern. Das ganze Semester über hatte er Anerkennung für seine höchst mittelmäßigen Leistungen erwartet und sie noch dazu beharrlich mit »Mrs Greene« angeredet, egal, wie oft sie ihn mit einem »Professor« korrigierte. Und die Bierdose da in seiner Hand   – die würde vermutlich in den Blüten der Wilden Möhren ihrer Nachbarn landen.
    Diesem jungen Mann gegenüber empfand sie mehr Abneigung, als sie je irgendeinem anderen Studenten entgegengebracht hatte, und das lag nicht nur an dem fehlenden Button   – dieses kleine Vergehen wäre leicht zu vergeben gewesen. Doch dann hatte sie, kurz vor den Abschlussprüfungen, plötzlich bemerkt, dass ihr Armband nicht mehr auf ihrem Büroschreibtisch lag. Es war ein loses silbernes Bettelarmband, ein Glücksbringer aus ihrer Jugendzeit, das sie oft neben ihre Tastatur legte. Sie hatte sein Verschwinden nach einer Fakultätssitzung bemerkt. Die Tür ihres Büros hatte offen gestanden, und als sie zurückkam, hatte sie die Veränderung im Raum sofort gespürt. Nachdem sie auf der Suche danach ganze Stapel von Unterlagen und Büchern durchwühlt hatte, fiel Emma ein, dass ihr auf dem Rückweg von der Sitzung Kyle im Flur entgegengekommen war, und zwar aus der Richtung, wo ihr Büro lag.
    In einem Anfall von Verbitterung hatte sie sofort beim Sprecher des Ehrenkomitees der Holford-Studenten angerufen. Er studierte im Hauptfach englische Literatur und war ein ehemaliger Student von ihr, einer mit scharfem Verstand,den sie

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