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Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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nichts.
    Mit großer Willensanstrengung schaffte es Peter, sich abzuwenden, um den oberen Flur entlangzuspähen. Die erste Tür rechts führte zu Michelles Schlafzimmer. Er wusste schon lange, dass sie und Joseph in getrennten Zimmern schliefen, und hatte angenommen, es läge an der höflichen Rücksichtnahme der jüngeren Ehefrau auf den alten, kranken Ehemann.
    Da die Tür einen Spalt offen stand, konnte er sehen, dass im Zimmer Licht brannte. Er klopfte leise. »Michelle?«
    Keine Antwort.
    Mit der Schuhspitze schob er die Tür auf.
    Sie hatte sich für einen der kleineren Räume des Obergeschosses entschieden, was Peter irgendwie nicht wunderte. Was ihn überraschte, war das Chaos in diesem Zimmer. Ganze Fotoseiten, herausgeschnitten aus Zeitschriften, waren mit einem wahren Wald glänzender Stecknadeln an den Wänden befestigt, mit viel mehr Stecknadeln als nötig. Die Ausschnitte zeigten Tätowierungen, Hunderte von Tätowierungen auf Armen, Rücken, Gesichtern, Augenlidern und Geschlechtsteilen. Stecknadeln zeichneten auch die Umrisse der Tätowierungen nach, Hunderte, Tausende von Nadeln. Manche reichten über den Rand der Abbildungen hinaus und gruppierten sich auf den engen Zwischenräumen aus leerer Wand zu dornigen Irrgärten.
    Der Boden neben dem Bett mit den vier Pfosten war mit zerschnittenen, zerfetzten und zusammengeknüllten Zeitschriften übersät. Es war das Bett eines kleinen Mädchens, ausgestattet mit rosafarbenen Rüschen, Daunendecken und spitzenbesetzten Kissen, kaum lang genug für Michelles schlaksige Gestalt von knapp einem Meter siebzig.
    Er stieg über die Stöße von Zeitschriften hinweg und musterte die Ausschnitte. Nie hatte Michelle ihm irgendwelche Tätowierungen gezeigt. Er wusste nicht, ob sie welche hatte.
    Dem Bett gegenüber befand sich ein wandhoher ovaler Spiegel. Peter machte einen Bogen um die zerschnittenen Zeitschriften und nahm sich den Spiegel vor. Mit Lippen- und Augenbrauenstift, Rouge und anderen Schminkutensilien waren Umrisse und Linien auf das Glas geschmiert, Streifen, Muster von Tierfellen und, weiter oben, grimassierende Masken.
    Er beugte sich vor, um das eigene Gesicht in eine gemalte Maske einzupassen. Damit sah er wie ein verrückter Dachs aus. Wie ein Clown mit Tiermaske.
    Er konnte sich nicht vorstellen, dass Michelle hier wohnte, nicht die Michelle, die er kannte. Oder zu kennen glaubte.
    Masken. Schlamm und Blut.
    Lordy Trentons junge Frau hatte Clowns gemalt.
    Peter drehte sich der Magen um, er wandte sich vom Spiegel ab. Im Bad brannte Licht, und der Ventilator summte schwach. Auf der Zeitschaltuhr für die Wärmelampe und den Ventilator waren zehn Minuten Restzeit bis zur eingestellten Maximaldauer von einer Stunde verblieben. Der Raum wirkte immer noch feucht. Am Duschvorhang, der die ovale Wanne umgab, perlte Wasser herunter. Bis auf rötliche Flecken, die nicht von Blut, sondern von verschmiertem Rouge oder Lippenstift herrührten, war die Wanne leer. Über dem Abfluss-Stöpsel waren falsche Wimpern hängen geblieben, nicht nur ein Paar, sondern mindestens sechs oder acht, so ineinander verstrickt, dass sie wie eine Familie ertrunkener Spinnen aussahen.
    Er verließ das Badezimmer, um sich dem begehbaren Wandschrank zuzuwenden. An einer Wand waren Schuhkartons aufgestapelt, die andere Wand nahmen Regale und die auf Bügeln hängende Kleidung ein. Ohne jedes Schamgefühl holte er einen Schuhkarton herunter und hob den Deckel an. Im Karton lagen Polaroid-Schnappschüsse und Blätter, die nach Ausdrucken von Digitalfotos aussahen. Weitere Körper, jüngst Verstorbene, bei denen noch nicht der Verwesungsprozess eingesetzt hatte. Sie lagen ausgestreckt auf Linoleum, quer über einer zerschlissenen Couch oder waren in irgendeinem Winkel zusammengesunken. Mienen, die zwar Entsetzen zeigten, sich aber im Tod entspannt hatten.
    Leere, teilnahmslose Augen.
    Nach Beleuchtung und Aufnahmewinkel zu urteilen, handelte es sich nicht um Tatortfotos der Polizei.
    Peter holte einen weiteren Karton mit schräg aufliegendem Deckel herunter. Ein kurzer Blick ins Innere – und die Schachtel entglitt seinen Fingern, so dass sich ihr Inhalt auf dem Fußboden verteilte. Alle Polaroid-Fotos, alle Aufnahmen in diesem Karton zeigten ein kleines Mädchen, das ausgestreckt auf einem Sperrholzbrett lag. Arme und Beine baumelten schlaff über die Kanten.
    Als er gegen die Kleiderstangen stieß, ergossen sich weitere Fotos auf den Teppichboden des Einbauschranks. Dutzende,

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