Stimmen
Aberdutzende.
Alle zeigten Daniella.
Das reicht, dachte er. Er hatte endgültig genug. Sollte das Ding auf dem Gang doch kommen und ihn holen. Er wollte nichts mehr sehen. Und er wusste: Falls er weitermachte, würden noch schlimmere Dinge als Fotos seiner toten Tochter auftauchen, so entsetzlich diese auch waren. Schließlich hatte er sich mit ihrem Tod schon vor geraumer Zeit, vor zwei Jahren, auseinander setzen müssen, und nichts anderes wurde ihm hier so anschaulich vor Augen geführt.
Ohne sich zu rühren, blieb er einige Minuten in dem begehbaren Schrank stehen und starrte auf den Turm von Kartons, selbst überrascht von seiner inneren Stärke. »Du wirst erst dann sterben, wenn du es überhaupt nicht willst«, murmelte er. »Nicht eine Minute früher.«
Irgendjemand, der Michelles Zimmer benutzte, hatte Tatortfotos von seiner toten Tochter gesammelt. Und Fotos von anderen Ermordeten. Das war zwar pervers, aber nicht jenseits des Vorstellbaren. Während der Zeit in Los Angeles hatte er eine Menge über bizarre, heimliche Hobbys erfahren. Was er nicht verstand, war die Verbindung zu Salammbo: Der Joseph, den er kannte, und die Michelle, die er zu kennen glaubte, würden solche Dinge niemals selbst tun oder bei anderen zulassen.
Er warf einen letzten Blick auf die verstreuten Fotos. Es war tatsächlich seine Tochter, aber die aufgemalte Waschbärmaske fehlte. Sie sah nicht so aus wie damals, als die Wanderer die Polizei benachrichtigt hatten. Und sie lag auch nicht auf dem trockenen goldenen Gras eines Hügels, verscharrt unter Erdklumpen und Blättern.
Sie lag so da, wie ihr Mörder sie gesehen haben musste.
Im Badezimmer schaltete sich die Zeituhr mit kurzem Summen aus.
Er verließ das Schlafzimmer und blieb kurz auf dem Gang stehen, da er kaum in der Lage war, einen Fuß vor den anderen zu zwingen. Durch reine Willenskraft schaffte er es schließlich, sich nach rechts zu wenden. Langsam ging er durch den Flur bis zu der Tür, die zu Josephs Wohnzimmer führte, zu dem Raum, der Aussicht auf die Auffahrt und das Grundstück bot. Auch hier waren Bewegungsmelder, die seine Schritte registrierten und das Oberlicht aktivierten. Die grellen weißen Strahlen der in die Decke eingelassenen Halogenleuchten huschten über die nackten Wände und fluteten, am Ende angelangt, gleich wieder zurück, wie ein Gezeitenstrom.
Als er die Tür erreicht hatte, griff Peter nach dem Drehknopf. Joseph befand sich in diesem Zimmer. Peter ahnte zwar nicht, in welcher Verfassung er sein mochte, aber er konnte seine Gegenwart riechen. Aufgrund seiner von Angst gespeisten Instinkte waren seine Sinne so scharf wie die eines Hundes.
Jetzt standen die Dinge anders, was ihn und Joseph betraf.
Fast konnte Peter die Szene vor sich sehen.
Joseph sitzt in seinem Sessel am Fenster und wartet darauf, dass ich hereinkomme. Über seinen Beinen liegt eine Decke, auf seinem Schoß ruht lässig eine Waffe, eine Pistole. »Ich habe Michelle umgebracht«, wird er sagen. »Sie ist unten, im Tunnel. Und jetzt werde ich dich umbringen, Mistkerl, weil du versucht hast, mir die Frau zu stehlen. Ich hasse Diebe.« Dann wird Joseph die Pistole heben und so lange schießen, bis das Magazin leer ist. Es gibt hier viele Orte, an denen man Leichen verstecken kann.
Leichen und Masken.
Genau das, wonach Scragg gesucht hat.
Peter umklammerte den Türknopf und drehte ihn herum. Er würde sich jetzt nicht wie ein Feigling verhalten, ein Feigling war er nie gewesen. Wie üblich ächzte die Tür leicht, als Peter sie öffnete. Der Raum dahinter war fast dunkel. Das Licht, das vom Gang hereindrang, fiel auf die Getränkebar. Nachdem Peter die Tür so weit aufgedrückt hatte, dass sie das obligatorische zweite Ächzen hinter sich gebracht hatte, trat er ins Zimmer.
»Kein Licht machen.«
Einen Augenblick lang fragte sich Peter, wer da sprach, ahnte aber gleich darauf, dass es Joseph sein musste. Es war Joseph, nur klang seine Stimme schwach und angespannt.
»Machen Sie die Tür zu. Und passen Sie auf… was Sie… im Rücken haben.«
Nachdem Peter die Tür geschlossen hatte, sah er, dass Joseph in seinem Lieblingssessel an den Flügelfenstern saß, durch die das Mondlicht drang. Er trug einen Frotteebademantel, der bis zu den Schenkeln reichte, und einen Schlafanzug, beides weiß. Sein Gesicht war vom Schatten des Fensterrahmens verdeckt; der Mond, der hoch am Himmel stand und mit stetem Licht strahlte, ließ den Raum unterhalb des Sessels völlig schwarz
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