Stimmen
sich wieder ganz klar und deutlich an ihren speziellen Geruch, ihr langes braunes Haar…
So als hätte ein feiner Herbstnebel die Gestalt eines kleinen Mädchens angenommen, stand sie in der offenen Schiebetür, Meter von ihm entfernt, und zögerte scheinbar einzutreten.
Kaum sichtbar in dieser Kammer, in die Papas Freundin sie verschleppt hatte, um sie hier zu ermorden, beobachtete Daniella, wie er ihre Strickjacke vor sich hielt.
Peter ging auf sie zu, um sie etwas Schreckliches zu fragen: »Ist es hier passiert?«
Die Gestalt hob und senkte das Kinn, das nur als schwacher Umriss zu erkennen war, und streckte ihre hauchdünne Hand nach seiner aus.
Instinktiv und ohne jeden Gedanken an die eigene Sicherheit griff Peter danach. Während ihre Finger in seine glitten, spürte Peter ganz kurz kindliche Verwunderung, dann die Panik eines Tiers. Daniellas Mund und Augen wurden dunkler und sackten herunter, Teile ihres Körpers begannen wie zerschlissenes Musselin auseinander zu fallen, klafften auf. Der Geist seiner Tochter teilte ihm mit, was sie so lange, allzu lange, mit sich herumgetragen hatte; teilte ihm mit, was man empfindet, wenn einem eine Messerspitze in die Haut gerammt wird; was man spürt, wenn das Messer mit einem Geräusch, als zerrisse Vinyl, in den Körper eindringt, wieder und wieder. Ließ ihn an dem Schmerz teilhaben, der selbst jetzt noch so heftig war, dass er dieses kleine Gespenst in Stücke zu zerreißen drohte.
Der Schmerz zwang Peter in die Knie. Während die kurzen, rauen Todesschreie seiner kleinen Tochter aus seinem Mund drangen, zerrten seine Hände an der eigenen Kehle und versuchten, die entsetzlichen Geräusche zum Verstummen zu bringen.
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Daniella, mehr als eine Projektion, dennoch nicht körperlich präsent, zog sich zurück und ließ ihn los. Schluchzend drückte Peter sich die Strickjacke ans Gesicht, hielt sie sich vor die Augen und hoffte wie schon so manches Mal, dass es ihm das Herz zerreißen würde. Er wollte nicht mehr leben. Das hier war mehr, als irgendein Mensch ertragen konnte.
Als sie sich umdrehte, geschah es nicht mit einer einzigen Bewegung: Zuerst wandte sich die äußere Hülle der Haut herum, danach folgten, zeitlich versetzt, die Andeutungen von Knochen unter der Haut… Sie trieb seitlich aus seinem Blickfeld heraus, auf Jesus weinte zu.
Und wieder vereitelte Peters eigene Stärke das Sterben. Es gab noch zu viel, das er hinter sich bringen musste. Die klaffenden Wunden in seinem Hals tränkten seinen Hemdkragen mit Blut, aber er spürte es nicht, weil die Erinnerung an die Schmerzen seiner Tochter alles überlagerte.
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Peter verließ den alten Bombenschutzraum, der zur Grabkammer geworden war, und stolperte die restliche Tunnelstrecke entlang, indem er sich von einem gelblichen Lichtkreis rund um die uralten Glühbirnen zum nächsten schleppte. Dabei musterte er die bräunlichen Schmierflecken an den Wänden, Kratzer von Fingern, Abdrücke von Händen. Es war nicht Josephs große, fleischige Hand, die sich hier verewigt hatte.
Sondern Michelles.
Vielleicht konnten die Toten nur die Wahrheit sagen.
Sobald sich die Atmosphäre unter dem Einfluss von Trans verändert hatte, hatte Joseph Daniella wiedererkannt. Vor wenigen Tagen hatte er Daniella und die anderen gesehen und die schon lange vermutete Wahrheit nicht mehr leugnen können, nicht mehr verdrängen können, was seine Frau war und was sie getan hatte. Deshalb die nächtlichen Angstattacken und die Schreie.
Du darfst dir keinen Schlaf mehr gönnen.
Während Peter durch den Tunnel ging, folgten ihm Schatten, die wie dünne Rußwölkchen aussahen und von einer Seite zur anderen schossen. Peter war sich sehr wohl bewusst, dass sie sich auf seine Fährte gesetzt hatten und ihn diesmal auf andere Weise benutzten. Ein Wesen oder auch mehrere, die niemals menschlich gewesen waren, nicht sprachen und mit irgendeiner Art von Kommunikation eigentlich nichts anfangen konnten, wie sie auch Materie an und für sich kaum nutzen konnten; riesige, ruhige, geduldige Gebilde, die jedoch ein fast unvorstellbares Potenzial an Gewalttätigkeit in sich bargen.
Immer noch hielt er die kleine Wolljacke in der rechten Hand. Seine Finger berührten eine von längst getrocknetem Blut durchtränkte Stelle und den vom Messer verursachten Einschnitt im Wollgewebe. Scragg würde die Jacke haben wollen; in dieser anderen, rationalen Welt über der Erde, weit entfernt vom Leiden der Gespenster, würde
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