Stimmen
Kehle. Er musste husten. Mittlerweile hatten sich seine Augen, so weit überhaupt möglich, an die Dunkelheit gewöhnt. Die Kammer hinter der Öffnung war nicht mehr als sechs Meter breit, aber tiefer als angenommen, denn er konnte die hintere Wand nicht ausmachen. Erneut beugte er sich vor und schob sich durch die Tür.
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Der Betonboden war alt, von Rissen durchzogen und uneben. Er konnte Teile von Eisenbahnschienen erkennen, die in einer Ecke aufgestapelt waren. Längs der Wand zu seiner Rechten, die Richtung Nordosten liegen musste – schon um einen klaren Kopf zu behalten, versuchte er sich zu orientieren –, standen mehrere Etagenbetten mit jeweils zwei Schlafstellen, Betten, wie man sie in Kasernen verwendet. Er zählte mindestens acht solcher Doppelbetten, die sich in einer Reihe bis nach hinten in die Dunkelheit zogen. Offenbar waren alle Betten belegt: von Gestalten, die sich nicht rührten und unter staubigen Decken wie im Schlaf dalagen. Selbst unter den Decken wirkten sie unnatürlich klein und zusammengeschrumpft.
Als er den Zipfel einer Decke zurückschlug, rieselte Staub über seine Füße. Das skelettartige Gesicht unter der Decke hatte strähniges, blond gefärbtes Haar. Eine Frau. Nicht sehr groß, aber erwachsen, kein Kind mehr. Bei dieser Erkenntnis empfand Peter eine Spur von Dankbarkeit. Das Fleisch des Kopfes war so zerfressen, dass fast nur noch bräunliche Schädelknochen zu sehen waren. Was vom Gesicht noch übrig war, wirkte so ausgedörrt wie Leder. Als er den Deckenzipfel fallen ließ, löste er erneut ein Staubwölkchen aus.
Peter ging weiter, tiefer in den Nebentunnel hinein. Das hier musste Trentons Bombenschutzkeller sein, ein Bunker mit Schlafgelegenheiten für mehrere Dutzend Freunde. Er stieß auf weitere Etagenbetten, weitere Leichen, die hintereinander aufgereiht in der Dunkelheit lagen. Grinsend, mit bleckenden Zähnen und dunkel gegerbten Gesichtern, die unter von Ratten zerfressenen, schmutzigen Decken hervorlugten.
So weit das Auge reichte, erstreckten sich die Etagenbetten längs der nordöstlichen Wand in die Dunkelheit. Kaum zu glauben, dass Michelle dies alles ohne fremde Hilfe bewerkstelligt haben konnte. Wie lange ging das schon so? Und wie konnte Joseph davon nichts gemerkt haben? Welche Art von Komplizenschaft hatte zwischen den beiden bestanden, wenn Joseph zunächst jede Mittäterschaft verweigert, doch im Laufe der Jahre zum Mitwisser geworden war? Peter wurde klar, dass er diese Beziehung wohl niemals begreifen, geschweige denn wissen würde, was im Einzelnen hier geschehen war.
Wie ihm auffiel, waren die Ratten verschwunden, hatten das sinkende Schiff – den zerfallenden Haushalt von Joseph und Michelle – verlassen.
Peter drückte sich gegen die Wand. Die Glühbirne zu seiner Rechten wirkte in diesem Zwielicht nicht heller als ein glühendes Streichholz. Schwach stach ihm der grässliche kalte Gestank von Staub und langjähriger Verwesung in die Nase. Hier unten war es schlimmer als auf der Wiese, wo man Daniellas Leichnam gefunden hatte. Viel schlimmer als auf der sonnigen, von Gras bewachsenen Hügelkuppe. Scragg hatte ihnen mitgeteilt, dass sie nicht am Fundort ermordet worden war. Sie hatte dort so gelegen, als hätte ihr jemand im Tod noch eine Spur von Respekt erweisen wollen, die Hände über dem zerfetzten Brustkorb gekreuzt.
Peter richtete sich auf. Ihm war es zutiefst zuwider, die übel riechende Luft einzuatmen, und er war drauf und dran, in Ohnmacht zu fallen. Eine Hand gegen den rauen, sandigen Beton gestützt, machte er sich auf den Rückweg zur Tür.
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Am Fuß der zugedeckten Gestalt im unteren Bett ganz rechts hatte jemand ein dunkles Bündel abgelegt. Peter zwang sich niederzuknien. Seine klammen Finger berührten zusammengefalteten Strickstoff. Als er ihn emporhielt, lösten sich Ärmel und Knopfleisten aus dem Bündel, worauf er das Kleidungsstück wiedererkannte, das man nie gefunden hatte: die blaue Wolljacke eines kleinen Mädchens, die jetzt steif vor Blut war.
Ein Erinnerungsstück.
Peter spürte, wie es wieder losging. Mit der Hitze hinter den Augen. Mit der Angst, die sich mit Liebe paarte. Einer Liebe, die die Distanz zwischen seinen Erinnerungen und dem Blut hier, zwischen Daniellas unverwechselbarer Persönlichkeit und dem zerfetzten Körper, zwischen ihm als Vater und dem Staub in dieser weiten Grabkammer überbrückte und ihm ein deutliches Bild seiner Tochter vermittelte. Plötzlich erinnerte er
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