Stimmen
Höhlenmalereien. In den dunklen Abschnitten zwischen den herunterbaumelnden Glühbirnen fielen sie kaum auf.
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Vor ihm, am anderen Ende des Tunnels, musste ein Tor oder eine Tür aufgegangen sein, denn ein ganz realer, steter Luftzug rauschte auf Peter zu und strich ihm über die Barthaare. Vorsichtig ging er zu einer großen Sperrholzplatte hinüber, mit der vier Wagenräder verschraubt waren. In das Sperrholz hatte jemand Löcher gebohrt und ein Seil durchgezogen, das feucht und verdreht bis in den Schotter hinunterbaumelte. Es war ein behelfsmäßiger Transportkarren, zu dem Zweck geschaffen, schwere Gegenstände durch den Tunnel zu befördern. Auf dem Sperrholz waren Blutflecken zu sehen.
Er kniete sich kurz hin. Ein Transportkarren. Bahnwaggons. Ein Tunnel. Eine Höhle. Schrecklicher Ort, voller Schimmel und Schmutz. Dazu geschaffen, Menschen von einem Haus zum anderen zu befördern. Unterirdisch, so dass sie nicht dem Sonnenlicht ausgesetzt waren. Tolle Idee. Häuser im Überfluss, Spielzeug im Überfluss, Träume im Überfluss. Träume, die in ihrer Lebensgier kein Maß mehr kannten. All das von viel Geld zum Leben erweckt. Geld und Leben zerrannen; die Torheit blieb.
Als Peter wieder aufstand und langsam um das Sperrholz herumging, trat er in die schaumigen Pfützen und holte sich nasse Füße. Ein paar Meter weiter hob sich eine rote Blechtür von Steinen und Mörtel ab. Es mochte eine Vorratskammer sein, vielleicht auch ein Wartungsraum oder der Ort, an dem die Elektrotechnik untergebracht war. Oder aber Lordy Trentons Luftschutzraum. Möglich, dass sie – es – da drin war, hinter eben dieser Tür versteckt.
Hier unten will ich nicht sterben.
Peter warf einen Blick zurück. Er hatte rund hundertzwanzig Meter hinter sich gebracht. Vom Flaubert-Haus waren es gut dreihundert Meter bis nach Jesus weinte, wenn man eine direkte Linie zog, die unterhalb der Hecke und des niedrigen Hügels verlief.
Er war noch längst nicht am Ziel.
Und wieder wusste er instinktiv, dass ihn irgendein großes Wesen beobachtete und belauerte. Von wo aus, ob es hinter ihm oder vor ihm wartete, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Seltsamerweise empfand er es nicht als Bedrohung, sondern lediglich als etwas Widerliches, das sich zu allem Widerlichen gesellte, das ihm bereits widerfahren war.
Er untersuchte die Schiebetür. Der rote Anstrich hatte genau wie das Holz schon bessere Tage gesehen. Irgendwelche Tiere, vermutlich Ratten, hatten die untere Kante angenagt. Die Räder und Laufschienen waren frisch geölt, offensichtlich war die Tür vor kurzem geöffnet worden.
Peter rümpfte die Nase. Von dem überall herrschenden Rauchgestank hob sich noch ein anderer Geruch ab. Er schob die Tür zur Seite – so weit es möglich war, ohne sich selbst vor der Dunkelheit da drinnen zur Schau zu stellen. Wartete, lauschte auf tröpfelndes Wasser. Beugte sich vor, um hineinzuspähen. Irgendjemand hatte eine einzelne Glühbirne in eine Keramikfassung an der Wand geschraubt, die, Meter weit entfernt, trübes Licht verbreitete. Sie sah so aus, als brenne sie schon seit Jahrzehnten. Alle Ecken lagen völlig im Dunkeln. Er konnte nicht sagen, wie weit nach hinten die Kammer reichte.
»Michelle?«
Einen Augenblick lang war er alarmiert, denn er hatte das Gefühl, jemand spähe ihm über die Schulter. Doch er beherrschte sich und wandte langsam den Kopf. Ein riesiger Schatten, der wie eine Nebelbank aussah, aber eine vertikale Form hatte, glitt über die Tunnelwand gegenüber und die Decke.
Er erkannte das Gebilde sofort wieder: Das Nichts von der Größe eines Grizzlybären war wieder da. Offenbar konnte es Gestalt und Art der Bewegung verändern.
»Wer, zum Teufel, bist du?«, fragte Peter, aber der Schatten war bereits wieder mit dem schmierigen Hintergrund verschmolzen und von Mörtel und Steinen nicht mehr zu unterscheiden. »Du willst mich doch gar nicht«, rief er. »Sonst hättest du mich schon längst holen können. An mir warst du doch nie interessiert. Was willst du also dann?«
Gleich darauf überwältigte ihn eine andere Art von Zitterkrampf: ein Lachkrampf. Er musste lachen, langsam und aus tiefer Kehle, was schrecklich klang. »Könntest du dich nicht wenigstens nützlich machen? Mir etwas besorgen?«, fragte er die Wand gegenüber. »Könntest du wenigstens zurückgehen und mir eine Taschenlampe holen?«
Während er sich wieder dem Raum hinter der Tür zuwandte, drang das gurgelnde Lachen weiter aus seiner
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