Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
verdüsterte. Peter hatte die Größe des Gebildes bislang unterschätzt. Entweder das, oder es konnte sich, wie eine Krake, zu verblüffendem Umfang ausdehnen.
    Wie auch immer, er hatte jedenfalls keine Angst davor. Das Gebilde wollte nicht ihm Böses, hatte nicht ihn zur Beute ausersehen. Peter diente nur als Spürhund, der den Jäger zu dem Opfer führte, das er tatsächlich zur Strecke bringen wollte.
    »Wir müssen reden«, wollte er Michelle zurufen, aber heraus kam nur ein heiseres Stöhnen. Er senkte das Kinn, um das bisschen Stimme, das ihm verblieben war, besser zu nutzen. »Joseph ist tot. Und ich glaube, du hast ihn umgebracht.«
    Am Ende eines langen Flurs, durch dessen großes Fenster blasses Dämmerlicht drang, quietschte eine Türangel.
    »Lass uns darüber reden, genau wie in alten Zeiten«, erwiderte Michelle. »Aber bleib, wo du bist, ja?«
    Peter war völlig desorientiert. Er hatte angenommen, das Gebäude erstrecke sich von Osten nach Westen und die Sonne werde in seinem Rücken aufgehen. Stattdessen schien sie direkt vor ihm am Himmel aufzusteigen.
    »Warum nicht von Angesicht zu Angesicht?«, brüllte er und spürte dabei, wie seine Stimmbänder vibrierten.
    »Mein wahres Gesicht würdest du nicht mögen, Peter«, gab Michelle zurück. »Du schwimmst jetzt in meinen Gewässern.
    Hier unten ist es schrecklich dunkel. Du hast den festen Boden unter den Füßen verloren, weißt du das denn nicht?«
    Er wusste es, aber er konnte trotzdem nicht aufgeben.
     
    •
     
    Michelle hatte längs des Flurs Trans-Apparate verteilt. Als Peter auf das Fenster mit dem halbrunden Oberlicht zuging, zählte er zwölf, alle in verschiedenen Farben. Es sah aus, als hätte jemand mit Hilfe riesiger Bonbons eine Spur ausgelegt. Einen Moment lang dachte er, der Teppichboden habe einen blassen, milchigen Blauton, aber als er weiterging, teilte sich das Blau vor seinen Füßen und strömte schnell zurück. Geschmeidig und ohne jeden Geruch ergoss sich die gasähnliche Flüssigkeit aus den Nahtstellen, den Öffnungen und dem Display jedes Trans-Apparats und blieb als Schicht von etwas mehr als einem Zentimeter am Boden haften.
    Er beugte sich hinunter, um einen der Apparate aufzuheben, und strich mit den Fingern über die Flüssigkeit. Sofort verwandelte sich das Blau in Gelb- und Grüntöne, durch die sich rote Adern zogen. Der Schock, der nicht von einem Stromschlag herrührte, sondern davon, dass sich ihm Kummer und Qual schlagartig mitteilten, schleuderte ihn gegen die Wand. Als er zusammensackte, streckten sich seine Hände automatisch vor, um den Sturz abzufangen. Als sie mit der Flüssigkeit in Berührung kamen, fuhr ihm ein unglaublicher Schmerz durch Arme und Rückgrat. Er empfand die Qual des Verlustes und peinigende Schuldgefühle; elende, hoffnungslose Verzweiflung; Angst davor, eingesperrt zu werden – von uniformierten Männern mit ausdruckslosen Gesichtern in einen engen Raum geworfen, bespuckt, verprügelt, zusammengeschlagen zu werden; den Schrecken der Einsamkeit in ewiger Dunkelheit, in der ihm lediglich tröpfelndes Wasser, Schaben und Spinnen Gesellschaft leisteten. In kürzester Zeit erlebte er alle Abarten innerer und äußerer Folter, Qualen, die er nie in seinem Leben hatte erleiden müssen.
    All dieses hoffnungslose Elend sickerte aus den Plastikgehäusen heraus, als verlöre ein Motor Öl. Das Gift ließ seine Knöchel ertauben, stieg an seinen Beinen hoch, verbreitete sich wie eine Infektion durch das Netz seiner Adern. Er spürte, wie der Schmerz in seinen Unterleib kroch, in sein Herz drang, einen Ansatzpunkt in seinem Nervensystem fand und noch höher stieg, bis er messerscharf in sein Gehirn vorstieß – ein Gefühl, als bissen faule Zähne in seinen Schädel.
    Inzwischen hatte der wirbelnde Nebel die Schattierungen von blutigem Eiter angenommen.
    So fühlt es sich an, wenn man am Stuhl festgeschnallt ist und versucht, die Luft anzuhalten, um nicht das aufsteigende Gas einatmen zu müssen – dieses Gas, das nach bitteren Mandeln riecht; wenn man auf einen harten Tisch geschnallt wird und sich die Nasenflügel weiten, weil das Desinfektionsmittel, der Alkohol, so stinkt; wenn fachmännische Finger die Haut vorsichtig zusammenkneifen, damit eine Arterie hervortritt; wenn man den brennenden Stich der langen Nadel spürt. Und jedes Mal, die ganze Zeit über, nimmt man vage diese blassen Gesichter vor der dicken Glasscheibe wahr, die einen von draußen beobachten, die entsetzt, aber

Weitere Kostenlose Bücher