Stimmen
Scragg die Jacke in einem Plastikbeutel verstauen und Labortechnikern zur Analyse schicken.
Hier, in der Unterwelt, am Ende des Tunnels, weit unterhalb der rationalen Welt, erwartete Daniella, kaum mehr als ein Umriss aus Schatten und Kristall, ihren Vater am Fuß einer langen Treppenflucht aus Beton. Aus einer offenen Tür drang ein Luftzug die Treppe hinunter. Er spürte kühle, frische Luft, die ihm willkommen war.
Eine Falle.
Kapitel 44
Peter schleppte sich die letzte Stufe hinauf und hielt sich mit der freien Hand am Geländer fest. Augenblicklich war von Daniella nichts mehr zu sehen. Seine Augen brannten vor Erschöpfung, von der Kruste getrockneter Tränen und salzigem Schweiß. Sein Hemdkragen klebte an der Haut. Er wusste, dass er eher tot als lebendig aussah.
Der Raum über ihm war klein und würfelförmig. Schwere Balken stützten die Decke. Auf einer Seite befand sich eine dicke schwarze Holztür, auf der anderen ein achteckiges Fenster, das über Bodenhöhe ganz oben in die Wand eingelassen war. Durch die in Blei gefassten Facettenscheiben drang schwaches Licht, Vorbote der Morgendämmerung. Eine Ecke wurde von einer Baulampe angestrahlt, deren helle Birne den ungestrichenen Mörtel in Licht tauchte. Vom Lampengestell aus wand sich ein dickes orangefarbenes Elektrokabel unter der schwarzen Tür hindurch. Ansonsten war der Raum sauber und leer.
Die Tür war von außen abgeschlossen. Peter probierte es mehrmals aus, indem er an dem alten Türknopf aus Messing drehte. Ohne Erfolg. Doch dann hörte er ein Klicken, der Türknopf ließ sich bewegen, und die Tür ging mühelos auf.
Ein weiteres Indiz für eine Falle. Michelle würde ihn mit der Pistole in der Hand erwarten. Also gut, dachte er. Wenigstens würde es schnell gehen. Beim Versuch, die Tür zu öffnen, würde er den Tod finden.
Niemand stand auf der anderen Seite. Der runde Lichthof im Zentrum von Jesus weinte lag dunkel da. Selbst unglaublich hässliche große Häuser haben stets riesige Eingangshallen; darin ähneln sie frustrierten alten Jungfern, die viel Dekolletee zeigen, dachte Peter. Aus den hohen Deckenfenstern unterhalb der Kuppel sickerte, nicht sonderlich hilfreich, trübes graues Licht. Auf beiden Seiten der imposanten schwarzen Eingangstür führten geschwungene Treppen von der Balustrade hinunter, die die Form des griechischen Buchstaben Omega hatte. Baugerüste und schwarzes Tuch verhüllten einen Großteil der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle. Vor kurzem mussten hier Handwerker ein und aus gegangen sein.
Hatte das Morden während der Renovierung aufgehört?
Hatte eine Leidenschaft die andere vorübergehend verdrängt?
Peter brauchte jemanden, der die Führung übernahm, musste die Verbindung zu dem Wesen herstellen, um dessentwillen er überhaupt hier war.
»Liebes?«, rief er leise.
Quer durch die Halle drang Michelles Antwort. »Bist du’s, Peter? Ist mit dir alles in Ordnung?«, rief sie mit blecherner, widerhallender Stimme.
Er konnte sie nicht sehen. Und die Echos verhinderten, dass er sie vom Geräusch her orten konnte. Er durchquerte die weitläufige, von der hohen Kuppel überwölbte Eingangshalle und ging danach unter der Balustrade hindurch, die von dicken, spiralförmigen Säulen im maurischen Stil und schmiedeeisernen Geländern gesäumt wurde. Während er sich dem geräumigen hinteren Teil des Gebäudes näherte, in dem er sich nicht auskannte, sah er Michelle zwar nicht, konnte sie jedoch atmen hören, so heftig atmen, als hätte sie gerade gymnastische Übungen hinter sich. Auf ein tiefes Einatmen folgte ein kleiner Seufzer, als wäre sie auf befriedigende Weise erschöpft. Er hörte, wie sich eine Tür schloss.
»Du bietest mir eine fröhliche Verfolgungsjagd«, rief sie. Plötzlich klang ihre Stimme ganz leise und schien von weit her zu kommen.
Peter blieb stehen. Blinzelte, um den Schweiß aus den Augen zu treiben, wagte aber nicht, sich darüberzuwischen. Die Versuchung, sich selbst zu blenden, um nichts mehr sehen zu müssen, war allzu groß. Immer noch umklammerte er die blutige Strickjacke, immer noch spürte er den Schmerz, der Daniella zerriss. Er war ein Mensch, der sich tatsächlich am Rande des Wahnsinns befand, diesen vielleicht auch schon überschritten hatte und vor kaum mehr etwas zurückschreckte.
Als er über die Schulter blickte, sah er, dass sich ein dünner dunkler Vorhang von rauchigem Dunst hochkräuselte und so verteilte, dass er den ganzen Lichthof
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