Stimmen
Handynummer ein. Als er das Besetztzeichen hörte, probierte er es auf dem Festnetzanschluss ihrer Wohnung, empfing aber nur durchdringende muntere Zwitschertöne. Sein eigenes Handy hatte er zu Hause gelassen. Nach drei weiteren Versuchen kurbelte er mit grimmiger Miene das Autofenster hoch, schloss den Wagen ab und machte sich auf den langen Heimweg.
Um 21 Uhr 37 ging er außer Atem, aber glücklicherweise ohne jede Schmerzen in der Brust – das bewies doch, dass er nur an einer Magenverstimmung litt, nicht wahr? – die asphaltierte Auffahrt hinauf und an der gähnend leeren Garage vorbei. Die Grillen zirpten eifrig, die Luft war wunderbar mild und kühl, und das Haus, das verlassen wirkte, lag still und dunkel da.
Sie sind hier gewesen und wieder gegangen, dachte Peter. Er hatte nicht einmal das Licht über der Veranda angelassen. Während er unter den Kettenranken des Jasmins auf das Haus zuging, empfand er eine tiefe, schwer auf ihm lastende Traurigkeit, ein Gefühl, das entschlossen schien, ihn völlig herunterzuziehen, und dabei ging es nicht nur um Helen und Lindsey. Diese Traurigkeit betraf etwas Grundsätzliches, die Summe eines unbekümmerten Lebens, in dem er so vieles versäumt hatte, dass er es niemals wieder gutmachen konnte.
Peter Russell vor dem Bankrott.
Er zog den Schlüssel heraus und wollte ihn gerade ins Messingschloss stecken, als er merkte, dass die Flügeltür offen stand. Bestimmt war Helen hier gewesen, wieder gegangen und hatte die Tür nicht hinter sich abgeschlossen. Vielleicht hatte sie sogar gehofft, dass jemand ihn ausraubte, denn das würde ihm schließlich eine Lehre sein!
Doch was sollten die Räuber ihm schon klauen – Bücher? Vinyl-Schallplatten? Vielleicht das alte Fernsehgerät samt Stereoanlage, das noch hundert Dollar wert sein mochte. Aber die noch älteren Magazine? Oder den Inhalt der Aktenschränke im Keller, die vermodernden Aktfotos, die längst nicht so aufreizend waren wie das, was man sich jeden Abend im Kabelfernsehen reinziehen konnte?
Peter drückte die Tür auf, deren obere Angel leicht quietschte, und blieb einen Augenblick stehen. Forschend blickte er zu dem stillen, abgedunkelten Wohnzimmer hinüber, das die Sonne, die tagsüber immer wieder durch die Wolken gebrochen war, aufgeheizt hatte. Er spürte den schwachen Modergeruch, der aus staubigen Winkeln drang, Ecken, die er bei seinen halbherzigen Putzversuchen immer wieder übersah. Ein leeres Leben, ein leeres Haus.
Mit hängenden Schultern durchquerte er den düsteren Gang und machte sich gar nicht erst die Mühe, die Lampen einzuschalten. Als er im Schlafzimmer über ein Paar Laufschuhe stolperte, besann er sich eines Besseren und zog an der Strippe der ausziehbaren Wandlampe. Sofort war das Zimmer in Licht getaucht. Ein ganz normales Licht, ein ganz normaler Abend.
Er hatte das von Enzenbacher entworfene Schachspiel unter den Spiegel auf die Kommode gestellt und alle Figuren ordentlich aufgereiht; das Spiel konnte jederzeit beginnen. Von seinem Standort aus war Alices-Wunderland-Kopie des Schachspiels spiegelverkehrt im Rahmen zu sehen. Er trat einen Schritt vor, um sich das reale Schachbrett anzusehen. Auf der Seite der silbernen Figuren, der guten Menschen und Geister, war der Bauer des Königs zwei Felder vorgerückt. Phils liebster Eröffnungszug.
Hatte er vielleicht mit der Figur hantiert, nachdem er das Spiel aufgestellt hatte? Doch er erinnerte sich genau daran, dass er alle Figuren in Reih und Glied hatte stehen lassen.
Stille, absolute Stille. Und plötzlich das Ächzen eines Dachbalkens, der sich leicht verlagerte, eine Unterbrechung, die ihn fast zum Lachen brachte. Danach ein heftiges Knacken, das von irgendwelchen Möbeln oder Wandverstrebungen herrühren mochte. Geräusche, die ihm seit Jahrzehnten vertraut waren, die er oft zu dieser Abendstunde wahrnahm. Holz, das gegen Holz drückte, froh darüber, sich von der Hitze des Tages erholen zu können.
Aus dem Schlafzimmer der Zwillinge drang ein Rascheln, als bewegte sich jemand im Bett.
Als er hörte, wie es vom Ende des Flures her »Daddy?« rief, klopfte ihm das Herz bis zum Hals, und seine Kehle verengte sich vor Sehnsucht.
Plötzlich war alles verändert: Er war glücklicher als seit Jahren. All sein Versagen, all seine Versäumnisse wurden ihm von den Schultern genommen, lösten sich auf in Schall und Rauch.
Helen war tatsächlich gekommen, hatte Lindsey dagelassen und sie ins Bett gesteckt.
»Ich bin hier, Liebes«,
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