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Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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rief er, eilte durch den Flur, machte die Tür auf und trat leise ins Schlafzimmer der Mädchen. Lindsey hatte sich das rechte Bett ausgesucht und lag dort so, dass nur ihr Gesicht unter der Bettdecke hervorlugte, ein kleiner Mond, der die Dunkelheit über dem blassen Grau der Überdecke erhellte. Darunter das hellere Grau des ordentlichen, stramm gezogenen Lakens, auf dem zwei magere, ineinander verschränkte Arme ruhten. So, wie sie im Dunkeln im Bett dalag, wirkte sie kleiner und jünger, klang auch jünger. Vielleicht hatte sie sich im Dunkeln gefürchtet und ängstlich darauf gewartet, dass er endlich nach Hause kam.
    Das gab ihm etwas in die Hand, das er seinerseits Helen vorwerfen konnte: Wie konnte sie ihre Tochter allein im Haus lassen, ohne die Haustür abzuschließen?! Durfte irgendeine Verabredung so wichtig sein, ein solches Risiko in Kauf zu nehmen?
    Natürlich würde sie ihm diese Bemerkung heimzahlen und ihm vorhalten, dass er Schuld daran habe, weil er nicht wie verabredet zu Hause gewesen sei. Wieder einmal habe er sie im Stich gelassen, als sie seine Hilfe so dringend gebraucht hätte…
    Peter verscheuchte all diese Gedanken, als er sich neben seine Tochter kniete.
    »Wo warst du denn?«, fragte sie.
    »Hab im Stau gesteckt.« Er strich ihr das dunkle Haar über der Stirn zurück. Ihre Haut fühlte sich weich und kühl an. »Es war ein schrecklich großes wildes Tier, das mich in den Fängen gehabt hat. Nichts sonst hätte mich von dir fern halten können.«
    »Ein Stau«, wiederholte sie in genau demselben Tonfall. »Ein wildes Tier.« Sie drehte sich auf die Seite und wandte sich ihm zu. Er hätte sie gern deutlicher gesehen, auch wenn ihm schon die Berührung ihrer Haut ein Glücksgefühl gab, das den ganzen Körper durchströmte. Was zählte, waren die Kinder. Der Sex, der sie erzeugte, war gar nichts dagegen. Es waren die eigenen Kinder, die einem das Gefühl von Größe und gleichzeitig von Unwürdigkeit vermittelten. Am liebsten hätte er den Kopf in den Schoß seiner Tochter gelegt, um Vergebung gebeten und seine Sorgen mit ihr geteilt. Aber als Vater durfte er so etwas nicht tun.
    Er würde für sie da sein, wenn sie am Morgen aufwachte, würde zum Markt gehen, um Milch und Frühstücksflocken zu besorgen; nein, er würde einfach auf sie warten, dann konnten sie zusammen gehen.
    »Deine Mutter hat dich also hier gelassen«, sagte er.
    »Ja.«
    »Na ja, ist schon in Ordnung so. Hauptsache, du bist jetzt hier. Du hast mir sehr gefehlt.«
    »Du mir auch. Ist schon viel zu lange her.«
    »Und jetzt schlaf schön.«
    Sie nickte eifrig, während er widerwillig aufstand. Als er sie noch einmal betrachtete, ein wunderbarer Moment, schwand jedes Gefühl von Einsamkeit. Sein Leben war wieder erfüllt.
    Er drehte sich um und blickte in das etwas hellere Zwielicht der linken Zimmerseite, wo sich vage die Umrisse eines leeren Bettes abzeichneten. Mittlerweile betrat er dieses Zimmer nur noch selten, aber irgendwie war das leere Bett nicht mehr so schwer zu ertragen, wenn im anderen jemand lag.
    So war das Leben nun mal: Überall auf der Welt gab es Eltern, die mit dem Tod eines Kindes fertig werden mussten. Nur änderte diese Erkenntnis nichts an seinem eigenen Kummer. Aber Lindseys Anwesenheit im Haus tat ihm gut. So gut, dass er sogar wieder das Gefühl hatte, das Leben werde schon irgendwie weitergehen.
    »Schlaf schön«, flüsterte er und zog die Tür zu, ließ aber einen kleinen Spalt offen.
     
    •
     
    Als Peter sich in die Küche setzte, hätte er gern ein Bier da gehabt, nur ein einziges, um diesen Augenblick zu genießen. Es war nur so eine plötzliche Idee.
    Kein Bier, kein Schnaps, keine Rauschmittel – nicht, dass er je viel mit illegalen Drogen zu tun gehabt hätte. Bei seiner früheren Arbeit hatte ihn allzu oft das Gefühl begleitet, die Bundes- und Landesbehörden säßen ihm im Nacken, um ihn zu überwachen. Und so hatte er es nie für sonderlich klug gehalten, harte Drogen zu konsumieren – abgesehen davon, dass sie ihn sowieso nie gereizt hatten.
    Nein, es war der Alkohol gewesen, der ihm wie ein sicherer Hafen vorgekommen war. Bis er sich nach und nach als Gegenteil erwiesen und sechs Monate seines Lebens umnebelt oder sogar ausgelöscht hatte. Irgendwann hatte Phil ihn in diesem Haus aufgestöbert, wo er, einsam und allein, ohnmächtig in der Badewanne gelegen hatte, noch mit dem Schlafanzug bekleidet. Helen war einige Tage zuvor ausgezogen und hatte Lindsey mitgenommen. Phil

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