Stimmen
auch das, was aus ihr geworden war: Sie wirkte durchscheinend, hauchzart und schön wie ein Kristall. Peter konnte das, was er hörte, nicht mit dem verbinden, was er sah. Der Detektiv sprach von Tod, Verdächtigen und Mord, aber Daniella war hier und verlangte, dass er sie beachtete.
Sie lächelte.
Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, fest entschlossen, sich zu konzentrieren. Denn falls er es nicht täte, würde er vielleicht die einzige unglaubliche Chance verpassen, die ihm viel wichtiger als alles andere war. »Ich kann im Augenblick nicht sprechen.«
»Mr. Russell…«
Peter legte auf.
Diese Erscheinung war nicht nur ein äußeres Bild von Daniella, nicht nur ein von außen sichtbares Gespenst. Während die Sekunden verstrichen, konnte er tiefer blicken, durch die Fetzen dessen hindurch, was ein Rest von Kleidung sein mochte. Sogar noch tiefer, bis unter die Haut, auf die nur leicht angedeuteten Umrisse von Knochen und Organen, die aufgrund irgendeiner sklavischen Abhängigkeit von der sterblichen Hülle immer noch an Ort und Stelle saßen. Sicher erfüllten sie keine Funktionen mehr, denn sie wurden ja nicht mehr gebraucht. Dem Äußeren entsprach das Innere: Sie sah wie das gläserne Modell eines Menschen aus, das man an der medizinischen Hochschule zu Lehrzwecken benutzt. Oder, genauer ausgedrückt, wie ein menschliches Fossil, durchscheinend und glänzend wie Perlmutt.
»Gespenster haben also Knochen«, murmelte Peter.
Sie sah nach links, leicht beunruhigt über etwas, das am Ende des Ganges wartete, und wandte den Blick dann wieder Peter zu.
»Hallo, Daniella… ist das Ding noch da?«, fragte er sanft, als redete er von einer Spinne oder anderem kleinen Ungeziefer, das ihr Kummer machte. Warte eine Minute. Ich hole ein Glas und setze das Ding nach draußen.
Sie bestätigte seine Vermutung mit mädchenhaftem Nicken. Es war immer noch da, was immer es sein mochte. Peter fragte sich, ob sie überhaupt in der Lage war, ihm in irgendeinem Punkt zu widersprechen. Vielleicht waren Gespenster wie Marionetten: gezwungen, das zu tun oder zu glauben, was man ihnen einredete.
Im Kopf spielte er verschiedene Bemerkungen durch: Ich hab dich lieb. Wo bist du jetzt, mein Liebling? Was ist mit dir geschehen? Er fragte sich, ob sie seine Gedanken lesen konnte. In Gedanken redete er schon seit Jahren mit Daniella und sagte dabei all die Dinge, die zu sagen ihm nicht die Zeit geblieben war, als sie noch am Leben gewesen war.
Schließlich begnügte er sich mit der Aufforderung: »Sag mir, ob du real bist.«
Sie belohnte ihn mit einem Schritt nach vorn. Offenbar beunruhigte sie das, was auf dem Gang lauerte, nicht allzu sehr – falls sie überhaupt so etwas wie Beunruhigung empfinden konnte. Sie hatte doch alle Sorgen der Sterblichen hinter sich, oder nicht? War es denn möglich, dass sie jetzt andere – posthume – Sorgen hatte? Was, zum Teufel, konnte das bedeuten?
Peter fühlte sich so, als hätte er sechs Tassen starken Kaffee hintereinander getrunken. Sein Puls raste, auch wenn er nicht schwitzte. Er empfand keinen Kummer, nur eine Aufregung, die sich kaum in Worte fassen ließ; er war vor Freude außer sich.
»Ich hab dich unheimlich lieb«, sagte er. »Danke, dass du mir eine zweite Chance gibst. Ich danke dir.«
Sonnenstäubchen stiegen vom Fußboden hoch und setzten sich auf ihr ab. Je näher sie kam, desto fester wirkte ihr Körper. So fest, dass er fast die Hand hätte ausstrecken und sie berühren, umarmen können.
Besser nicht.
»Du bist real«, sagte Daniella. Ihre Stimme klang wie ein Instrument aus Schilfrohr, das mit seinem Ton meterdicken Mull durchdringt. Oder wie eine schlechte Fernverbindung über unglaublich weite Meere hinweg. Sie hob den Kopf und spreizte die Finger so, als wollte sie die Hände gegen seine Brust stemmen. Erneut fiel Peter auf, dass ihre Körpermitte so funkelte wie in Licht getaucht. Sie sah aus, als hätte sie sich eine kleine schimmernde Wolke einverleibt, als strahlte das Innere dieser Geistererscheinung wie bei einem Sonnenuntergang.
»Was möchtest du, Liebes?«, fragte er.
»Sieh hin«, forderte sie und machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Diesmal merkte er, wie abrupt ihre Bewegungen waren, so ruckartig wie bei einem Videoband, das man im Schnelldurchlauf vorspulte. Unter der Gesichtshaut nahm er die Umrisse von Venen und Arterien wahr, hinter den Lippen das Gebiss, unter der Kopfhaut die Schädelknochen. Wir gehen davon aus, dass die Toten
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