Stimmen
Genuss, als löffelte er heiße Soße auf Kartoffelbrei. Nach dem körperlichen Kontakt mit den Toten konnte selbst Haferbrei sündhaft gut schmecken.
Als er hinten im Küchenschrank auf ein uraltes Glas Sirup stieß, löste er die verkrusteten Klumpen des Orangenextrakts in Leitungswasser auf, rührte mit dem Löffel kräftig um, stellte drei gefüllte Trinkgläser in einer Reihe auf und stürzte sie alle hinunter. Der Zucker wirkte elektrisierend. Seine Sinne schärften sich, so dass er alles mit erfrischender, aber auch quälender Deutlichkeit empfand.
Lindsey musste mit ihm reden.
Er ließ den Löffel sinken, da ihm schlagartig übel wurde. Es vergingen einige Minuten, bis er sicher war, dass das, was er gegessen hatte, nicht Wiedersehen mit ihm feiern würde. Essen konnte er jetzt nichts mehr. Er blickte zum Telefon hinüber, danach auf den Anrufbeantworter, der darunter auf der gekachelten Anrichte stand. Das Lämpchen leuchtete stetig, also waren keine neuen Nachrichten eingegangen. Wie auch? Er hatte den Empfangsmodus lahm gelegt, ohne dass er sich daran erinnerte, auf die Taste gedrückt zu haben. Er streckte die Hand aus und schaltete die Funktionstaste wieder ein.
Würde Daniella ihm so wie das Gespenst in einer Folge von Twilight Zone Nachrichten zukommen lassen? Indem sie vom Friedhof aus eine vom Sturm gekappte Telefonleitung anzapfte?
Aber Daniella lag natürlich gar nicht auf irgendeinem Friedhof. Helen hatte ihre sterblichen Überreste einäschern lassen. Ihre Urne stand in der Nische einer Gedenkhalle. Nein, geh da nicht hin.
Bin nie dort gewesen. Was ich für Phil getan hob, hab ich bei ihr versäumt: Hab sie dem Meer nicht zurückgegeben. Helen hat mir verboten, meine Tochter dem Kreislauf der Natur zu überantworten.
Scragg. Detective Scragg, der nach all der Zeit immer noch am Ball ist, den Fall nicht zu den Akten gelegt hat. Zwei Jahre her, sagt der Kalender. Reiner Zufall. Was für ein pflichtbewusster, engagierter Polizist. Menschen, an die wir bisher nicht gedacht haben. Jeder kommt als Täter in Frage.
Er beugte sich über den Tisch in der Frühstücksecke, umklammerte die stählerne Randleiste und starrte mit leerem Blick auf die glänzende Kunststoffplatte mit Marmormuster, ohne irgendetwas wahrzunehmen.
Biss sich auf die Lippen, sog die Wange ein und kaute darauf herum.
Sie war bereits drei Wochen als vermisst gemeldet, drei Wochen tot, als ein Jogger sie in hohem, trockenem Gras fand, verscharrt unter einem Blätterhaufen.
Zehnjährige Tochter des früheren Pornoregisseurs Peter Russell tot aufgefunden, im Griffith Park verscharrt.
Wer immer sie entführt und ermordet hatte, er hatte einfach ein bisschen Gras und Erde aufgekratzt und sie dort abgeladen. In seiner Raserei hatte der Mörder viele Male auf sie eingestochen. Peter und Helens einziger Trost – schwacher Trost – war, dass Daniella nicht vergewaltigt worden war.
Geister zeigen keine Spuren der Gewalt, die man ihnen im Leben angetan hat, keine Spuren des Krankhaften, der Mordtat.
All diese Gedanken sprudelten in so schneller Folge tief aus seinem Innern hervor, dass es ihm so vorkam, als verränne die Zeit jetzt langsamer als zuvor.
Nein, so ist es ja gar nicht gewesen. Sie ist an Leukämie gestorben, war monatelang krank. Sei ist überhaupt nicht ermordet worden. Mach dir doch nichts vor, Schwachkopf.
Sie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Bei einem Busunglück.
Sie starb während eines Schulausflugs, denn sie stürzte von einem Felsen ab und brach sich das Genick; wie schön sie aussah, als sie mit all den Blumen im Sarg lag.
Wer in dieser überaus schrecklichen Welt würde denn ein so reizendes kleines Mädchen abschlachten und dann draußen liegen und verrotten lassen?
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Manchmal, wenn auch selten, kehren die vermissten Kinder lebendig zurück – und mit ihnen die Fernsehkameras. Aber wer würde einem Bericht Glauben schenken, in dem es heißt, ein totes Kind sei zurück nach Hause gekommen? Peter Russells Tochter kehrt von der anderen Seite zurück. Das ganze Land freut sich mit ihm. Nach der Werbung: Vater ist überglücklich.
Diese schrecklichen drei Wochen der Ungewissheit. Helen, die im Badezimmer kreischt und sich die Arme blutig kratzt. Lindsey, die sich in ihrem Zimmer oder unter der Kellertreppe versteckt, mit knapp elf Jahren noch zu jung, um wirklich zu verstehen, was Tod bedeutet. Und wer, egal wie alt, würde den Tod eines geliebten Menschen je verstehen oder
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