Stimmen
schwarzem Leinenrücken, dessen Schutzumschlag fehlte. Die Seiten waren ziemlich zerfleddert. Er hatte das Buch 1969 in einem alternativen Buchladen in Laguna Beach erworben und es nur einmal ganz durchgelesen, aber der frühere Besitzer musste es so oft in die Hand genommen haben, dass es regelrecht ramponiert war. Er setzte sich auf die Bettkante und blätterte die Seiten durch, bis er den Verweis auf den Philosophen Henri Bergson gefunden hatte. Bergson behauptete, eine Art Sperrvorrichtung bewahre das Gehirn davor, von den Einzelheiten der Wirklichkeit überflutet zu werden. Die Sperrvorrichtung halte übersinnliche Täuschungen von uns fern, sorge für unsere geistige Gesundheit und die Konzentration auf das wirklich Lebenswichtige… so dass man das im Auge behielt, was einem tatsächlich lebensgefährlich werden konnte, anstatt sich von allen möglichen Dingen ablenken zu lassen.
Huxley war am selben Tag gestorben, an dem John F. Kennedy ermordet worden war, am 22. November 1963. Er hatte einen Zettel hinterlassen, auf den er nur drei Buchstaben gekritzelt hatte: LSD. Vielleicht hatte Huxley nur deshalb LSD genommen, um seine Entdeckungsreisen fortzusetzen und die Sperrvorrichtung des alten Bergson weit zu öffnen, selbst über den Tod hinaus.
Allerdings konnte Peter, wenn er es auf die eigene Situation bezog, nicht viel mit dieser Vorstellung anfangen. Was mit ihm geschah, ähnelte weniger dem Öffnen einer Sperrvorrichtung als dem Lecken eines undichten Zapfhahns. Es war das nüchterne, traurige tropf, tropf, tropf von Stoffwechselstörungen im Hirn. Sein Onkel mütterlicherseits hatte unter Schizophrenie gelitten. Allerdings hatte Peter – bis jetzt – nie irgendwelche Symptome davon gezeigt. Doch aus dem Gleis geraten war er auch früher schon. Als er versucht hatte, eine bestimmte Sache aufzuklären. Als er versucht hatte, in Erfahrung zu bringen, wie man etwas ins Leben zurückholen konnte.
Er ließ das Buch sinken und starrte auf die Wand, auf die zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter großen Bilder der Mädchen in ihren schlichten Messingrahmen. Auf Daniella im letzten Jahr ihres kurzen Lebens, die ihm ein strahlendes Kamera-Lächeln zuwarf, während sie sich mit dem Zeigefinger ein kleines Grübchen in die runde Wange bohrte. Auf Lindsey, am selben Tag aufgenommen, die mit ihren großen blauen Augen und den bewusst gleichgültig zusammengekniffenen Lippen ernsthafter wirkte als ihre Schwester.
Nein, du bist weder verrückt, noch flüchtest du dich in irgendwelche Erklärungen, sagte sich Peter. Als Vater hast du einen schlimmen Verlust erlitten, mit dem man nur schwer weiterleben kann. Aber du siehst reale Dinge und bemühst dich derzeit herauszufinden, was es damit auf sich hat und was am ehesten irgendeinen Sinn ergibt.
Gleich darauf verzog er ironisch das Gesicht. Und warum siehst dann nur du solche Dinge, Schlaumeier?
Huxleys Buch, das hier auch nicht weiterhalf, lag immer noch aufgeschlagen auf dem Bett.
Als das Telefon in der Küche klingelte, ging er hinüber, nahm den Hörer von der Gabel und zerrte an der langen gedrehten Schnur, um ihn frei zu bekommen. »Russell am Apparat.«
»Mr. Russell, hier ist Detective Scragg, Raub- und Morddezernat. Ich hab schon mal angerufen. Wir haben schon recht lange nicht mehr miteinander gesprochen. Ich hoffe, es passt Ihnen jetzt oder kommt zumindest nicht völlig ungelegen.«
Peter drehte sich um. In der Küche war es dunkel, das einzige Licht drang durch das Fenster über der Spüle von der Veranda herein. Die Holzjalousie über dem Fenster warf Schattenstreifen über die Schränke und die Anrichte.
»Ich wollte nur einen Termin für ein weiteres Treffen mit Ihnen ausmachen«, fuhr die Stimme am anderen Ende fort. »Um ein paar Dinge zu erörtern, falls es Ihnen nichts ausmacht.«
»Es ist Sonntagabend«, bemerkte Peter.
»Tja, schon gut, aber für mich gibt es eigentlich keine Wochenenden. Ich nutze die Zeit dazu, ungelöste Fälle durchzugehen, Fälle ohne irgendeine heiße Spur. Das mache ich regelmäßig. Irgendwann werd ich’s auch noch lernen, aber derzeit arbeite ich noch durch. – Mrs. Russell hat auf meine Anrufe nicht reagiert.«
»Ja, richtig.« Peter war nicht danach, Scragg von der Scheidung zu erzählen.
»Ich nehme es ihr auch nicht übel, aber es gibt da ein paar Dinge, die ich mit Ihnen durchgehen muss, nichts Neues, nur, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Um das Uhrwerk des Falles am Laufen zu halten.«
Peter hatte
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