Stirb
betrachtete das Blut an seinen Fingern.
»Dieser Wichser!«
»Lass mal sehen«, seufzte Lara und reichte ihm ein Taschentuch. Er drückte es auf seine aufgeplatzte Lippe.
»Also – was wolltest du hier im Zirkus?«, fragte sie, abrupt zu ihrem schroffen Tonfall zurückkehrend.
»Deine Neugier in allen Ehren, aber ich denke nicht, dass dich das was angeht. Was soll das Ganze überhaupt?«
Lara hatte geahnt, dass er das fragen würde.
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände.
»Jetzt hör mir mal gut zu, Lara, Karoline oder wer auch immer du bist – du kannst mir vertrauen, verstehst du?«
Sie sah in seine leuchtend blauen Augen. Tief in ihrem Innern wollte sie ihm ja glauben.
***
Am frühen Morgen des 25. Mai …
Dr. Urs Lange stand im beigefarbenen Anzug am offenen Fenster seines Sprechzimmers und zog an seiner Zigarette, den Blick über den Koi-Teich hinweg auf die Promenade von Binz und den dahinterliegenden Strand gerichtet, wo sich ältere Kurgäste und andere Frühaufsteher um kleine Verkaufsstände tummelten, vom Steg aus Möwen fütterten oder in den Strandkörben vor sich hin dösten.
»Sie sind jetzt da, Herr Doktor«, teilte die schlanke, rothaarige Sprechstundenhilfe mit, die hinter ihm in der Tür stand.
Der Psychologe drückte seine Zigarette in dem Marmorascher auf dem Fensterbrett aus und strich sich mit beiden Händen die dunklen, kinnlangen Haare aus dem Gesicht.
»In Ordnung, schicken Sie sie rein.« Er schloss das Fenster und lockerte seine Schultern mit kreisenden Bewegungen, bevor er die Ankömmlinge mit einem kurzen, kräftigen Händedruck begrüßte.
Hausmann und Kern nahmen auf den Sesseln im hinteren Teil des lichtdurchfluteten, modern eingerichteten Behandlungszimmers Platz, das durch und durch in Pastelltönen gehalten war. Die cremefarben getünchten Wände waren mit abstrakten Malereien behängt, die dem geschulten Auge eine moderne Interpretation eines morbid-romantischen Caspar-David-Friedrich-Gemäldes boten. Daneben verschiedene Schwarzweißfotografien sowie eine Reihe gerahmter Zertifikate, die Langes Kompetenz als Psychologe und Psychiater unterstreichen sollten.
»Und du bist dir ganz sicher?«, fragte Lara Emma noch einmal. Sie wollte ihre Hand am liebsten gar nicht mehr loslassen.
Jeder im Raum wusste, wie schwer es für das Mädchen sein musste, sich die grausamen Details jener blutigen Nacht vor sechs Jahren während der bevorstehenden Hypnose noch einmal lebhaft vor Augen zu führen.
Doch Emma wirkte erstaunlich ruhig. Sie nickte tapfer, lockerte ihren Seidenschal und setzte sich auf die lederne Liege.
»Okay, dann … Ich bin bei dir«, flüsterte Lara, mehr zu ihrer eigenen Beruhigung, und sank auf den nebenstehenden Stuhl. Emma weiß, was sie tut, sagte sie sich immer wieder.
Dr. Lange wartete, bis sich alle gesetzt hatten, ehe er sich mit routiniert wohlwollender Miene auf seinem mit Leder bespannten Stuhl niederließ. Er wies noch einmal explizit darauf hin, keinerlei Garantie dafür zu übernehmen, dass es Emma bei dieser Sitzung tatsächlich gelingen würde, an den Ursprung ihres Traumas zurückzukehren und den Täter zu beschreiben.
Dann beugte er sich zu dem Diktiergerät vor, das neben der obligatorischen Packung Taschentücher auf einem kleinen Glastisch lag, und wandte sich Emma zu. Er räusperte sich, bevor er das Mädchen aufforderte, sich hinzulegen.
»Lass deine Hände ganz locker neben deinem Körper liegen, die Handflächen zeigen nach oben«, begann er mit gesenkter Stimme auf Emma einzureden. »Schließe jetzt die Augen … Sei ganz ruhig und entspannt … Ich weiß aus unseren bisherigen Sitzungen, dass es Dinge gibt, die dir helfen, dich zu entspannen. Einen Ort, den du magst und der dich beruhigt. Du weißt, was ich meine. Du hast diesen Ort schon oft gemalt.«
Einvernehmlich nickte Emma und schloss die Augen.
Dr. Lange wies sie an, jede Faser und jeden Muskel ihres Körpers anzuspannen und wieder loszulassen. Zunächst die Gesichtsmuskeln, dann den Oberkörper, das Gesäß, die Beine bis hin zu den Fußspitzen.
Lara konnte regelrecht zusehen, wie sich Emma entspannte.
»Das machst du sehr gut, Emma …«, fuhr Lange fort, »… mit jedem Atemzug fällst du tiefer in Trance. Und jetzt möchte ich, dass du genau diesen Ort noch einmal vor deinem geistigen Auge entstehen lässt, bis du das Gefühl hast, auf der friedlichen, sonnigen Wiese zu sein. Du ruhst dich unter einem großen Baum aus, der dir wohltuenden Schatten
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